Pariser Scholaren um 1200 als gewaltsame Akteure. Überlegungen zur Entstehung der Universität aus konfliktsoziologischer Perspektive
Einleitung
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Ausgangspunkt dieses Beitrags sind die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Studenten der Pariser Schulen und den Bewohnern der Stadt Paris, welche – einhergehend mit dem Zustrom der Scholaren im 12. Jahrhundert – das studentische Leben an der Universität Paris von Beginn an prägten. <footnote data-anchor="anmerkung1" data-id="fn1">[1]</footnote> Dabei soll insbesondere der Frage nachgegangen werden, ob oder inwieweit Konflikte von Scholaren mit Stadtbewohnern in der frühen Geschichte der Universität Paris eine identitätsstiftende Funktion für die sich kurz nach 1200 konstituierende universitas der Magister und Scholaren erfüllen. Dass die Einung der Lehrenden und Lernenden auch dem persönlichen Schutz ihrer Mitglieder diente, ist in der Forschung gewiss immer wieder konstatiert worden; nicht wurde jedoch bisher systematisch nach den möglichen Implikationen von Town-vs-Gown-Phänomenen für die Konstitution von sozialen Identitäten gefragt. So wird im Allgemeinen betont, dass der Zusammenschluss der Pariser Schulen vor allem auf dem Bestreben der kollektiv handelnden Magister beruht, während den Studenten jedweder Anteil an dieser Entwicklung abgesprochen wird. Im Hinblick auf Konflikte wurde vor allem der Auseinandersetzung mit dem Kanzler von Notre-Dame eine entscheidende Rolle zugewiesen, während die gewaltsamen Interaktionen mit Stadtbewohnern meist als einleitende Erzählung zu den beiden großen Privilegien von 1200 <footnote data-anchor="anmerkung2" data-id="fn2">[2]</footnote> und 1231 <footnote data-anchor="anmerkung3" data-id="fn3">[3]</footnote> Erwähnung finden. In diesem Beitrag soll daher erörtert werden, in welchem Maße das Bewusstsein einer gemeinsamen Identität der Pariser Magister und ihr daraus resultierender Entschluss zur Einung auch von der scharfen Opposition der Schulen zur städtischen Bevölkerung beeinflusst wurde, die sich in den Auseinandersetzungen der Studenten augenfällig manifestiert und reproduziert.
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Da dieses Thema hier allerdings nicht umfassend behandelt werden kann, besteht das Ziel der folgenden Ausführungen nicht in einem darstellenden Referat konkreter Konfliktfälle anhand einzelner Quellen. Es ist an dieser Stelle vielmehr mein Anliegen, einen skizzenhaften Ausblick auf mögliche Perspektiven zur Erforschung dieser Zusammenhänge zu formulieren und entsprechende Ansätze zu einer methodischen Fundierung aufzuzeigen. Zu diesem Zweck soll ein theoretisches Modell in seinen Grundzügen vorgestellt und auf die gewählte Thematik bezogen werden, wobei ich mich an verschiedenen Konzepten der konfliktsoziologischen und kulturwissenschaftlichen Theoriebildung orientiere.
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Wenn schließlich die Jahre um 1200 als Untersuchungszeitraum gewählt werden, so handelt es sich somit gerade um die vieldiskutierte und gründlich erforschte Frühgeschichte der Universität Paris, deren Entstehung das Thema zahlreicher Erörterungen sowie sehr unterschiedlicher Erklärungsansätze gewesen ist. Diese Jahre noch einmal aus einer neuen Perspektive zu betrachten, ist demnach besonders schwierig und lässt es angebracht erscheinen, gleich zu Beginn darauf hinzuweisen, dass hier keinesfalls ein gänzlich eigenständiger Zugang angestrebt wird. Vielmehr soll ein bestimmter Aspekt – die gewaltsamen Konflikte der Scholaren – vor dem Hintergrund der etablierten Forschungsergebnisse besonders akzentuiert und unter einem bisher noch zu wenig bedachten Blickwinkel untersucht werden. Obwohl ich davon absehen möchte, etwa die grundsätzliche Kontroverse zwischen Herbert Grundmann <footnote data-anchor="anmerkung4" data-id="fn4">[4]</footnote> und Peter Classen <footnote data-anchor="anmerkung5" data-id="fn5">[5]</footnote> erneut zu referieren, werden sich die folgenden Überlegungen freilich in Auseinandersetzung mit einschlägigen Positionen der Forschung vollziehen, deren Standpunkte die Basis für den hier vorgestellten Ansatz bilden.
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Vor allem Jacques Verger hat in zahlreichen Publikationen die unterschiedlichen Faktoren, die den Zusammenschluss der Pariser Magister um 1200 konditionierten, hinsichtlich ihrer jeweiligen Gewichtung und Reichweite beurteilt und zueinander in Beziehung gesetzt. <footnote data-anchor="anmerkung6" data-id="fn6">[6]</footnote> Abgesehen von den generell günstigen sozioökonomischen Rahmenbedingungen und besonders der Hilfe des Papsttums, ist der wichtigste und entscheidende Faktor für Verger die Initiative der Magister selbst, der entschlossene Wille, die eigenen Ideale aktiv umzusetzen, um auf diese Weise einem vom ‚Neuen Aristoteles‘ inspirierten geistigen Aufbruch seine adäquate Organisationsform zu verschaffen. Ebenso wie für Stephen Ferruolo, der 1985 weitgehend die gleiche Auffassung vertrat <footnote data-anchor="anmerkung7" data-id="fn7">[7]</footnote> , gingen für Verger insbesondere zwei Entwicklungen voraus: Zum einen manifestierte sich im Laufe des 12. Jahrhunderts bei unterschiedlichen ‚Kritikern‘ eine intensive Reflexion über die Probleme und Bedürfnisse der Schulen von Paris. Nicht zuletzt durch diese diskursive Fokussierung einer gemeinsamen Situation und Problemlage motiviert, erlangten die Magister immer stärker ein Bewusstsein von den konkreten Bedürfnissen der eigenen Arbeit. Zum anderen habe die enorme Anzahl der Pariser Magister und Scholaren seit ca. 1170 die Herausbildung eines Gruppenbewusstseins maßgeblich gefördert. Den Einfluss des städtischen Milieus bei dieser Entwicklung schätzt Verger hingegen eher gering ein. Dessen Rolle für die Entstehung der Universität sei vor allem deshalb weniger relevant, weil ein „unüberwindlicher Graben“ zwischen den Schulen und der Stadtbevölkerung bestanden habe, der eine entsprechende Einflussnahme verhinderte. Die vielfachen Konflikte zwischen Scholaren und Stadtbewohnern bezeugten hinlänglich das feindselige Verhältnis, welches beide Seiten voneinander trennte. <footnote data-anchor="anmerkung8" data-id="fn8">[8]</footnote>
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Diese Argumentation, welche ich in aller Kürze skizziert habe, ist in der Folgezeit oftmals übernommen worden. Während ihr in allen zuerst genannten Aspekten freilich uneingeschränkt zuzustimmen ist, soll im Hinblick auf das Thema dieses Beitrags jedoch der Versuch unternommen werden, den zuletzt angesprochenen Punkt, die Rolle des städtischen Milieus, aufzugreifen und neu zu beleuchten. Dabei soll es zunächst um die Frage gehen, aus welchen Gründen es gegen Ende des 12. Jahrhunderts zu der diagnostizierten Konstituierung eines Gruppenbewusstseins und eines Solidaritätsgefühls unter den Magistern und Scholaren kam bzw. inwieweit dieser Vorgang dadurch analytisch genauer erfasst werden kann, dass die Struktur der stadtinternen Positionen und Oppositionen in ihrer Dynamik untersucht wird. Dass der schließlich erfolgte Zusammenschluss der Schulen keinesfalls in dem Sinne selbstverständlich ist, dass sich die Entwicklung des 12. Jahrhunderts in ein teleologisches Verlaufsmodell einlesen ließe, aus dessen organischer Entfaltung die Universität zwangsläufig hervorgegangen wäre, wird auch daran ersichtlich, dass die ‚freien‘ oder ‚privaten‘ Magister im 12. Jahrhundert zunächst alles andere als solidarisch waren und vielmehr in einem Verhältnis bitterer Konkurrenz standen. Der „intellektuelle Marktplatz“ <footnote data-anchor="anmerkung9" data-id="fn9">[9]</footnote> , der durch die Pluralität der Schulen konstituiert wurde, war von antagonistischen Relationen bestimmt, die der Genese von Solidarität und Gemeinschaft entgegenstanden; und dies umso mehr, als die Angehörigen der Schulen hinsichtlich ihrer sozialen und geographischen Herkunft bekanntlich ausgesprochen heterogen waren. Dass aus dieser „unregulierten Konkurrenzsituation“ <footnote data-anchor="anmerkung10" data-id="fn10">[10]</footnote> der Lehrer nicht verstetigte Marktstrukturen von dauerhaft ‚verfeindeten‘ Schulen, sondern schließlich doch ein auf Solidarität gegründetes Gruppenbewusstsein entstanden ist, darf demnach durchaus als kontigentes Resultat eines erklärungsbedürftigen Prozesses gelten.
Anmerkungen
<footnote data-anchor="fn1" data-id="anmerkung1">[1]</footnote> Zu den town-vs-gown-Konflikten grundlegend: Jacques Verger: Les conflits «Town and Gown» au moyen âge: Essai de typologie, in: Les universités et la ville au moyen âge. Cohabitation et tension, hrsg. von Patrick Gilli, Jacques Verger und Daniel Le Blévec Education and Society in the Middle Ages and Renaissance, Bd. 30), Leiden 2007, S. 237‒255; siehe ebenso: Hannah Skoda: Medieval Violence. Physical Brutality in Northern France, 1270‒1330, Oxford 2013, S. 119‒158; Sophie Cassagnes-Brouquet: La violence des étudiants au Moyen Âge, Rennes 2012.
<footnote data-anchor="fn2" data-id="anmerkung2">[2]</footnote> Nach einer Kneipenschlägerei waren später mehrere Studenten durch den Angriff des königlichen Prévôt und einer Gruppe von bewaffneten Stadtbewohnern („cum plebe civitatis armata armatus“) getötet worden, Roger von Hoveden, Chronica, hrsg. von William Stubbs, Bd. 4, London 1871, S. 120f.
<footnote data-anchor="fn3" data-id="anmerkung3">[3]</footnote> 1229 hatte der Streit gleichfalls seinen Anfang in einer Kneipe genommen und war anschließend eskaliert; auch dabei wurden schließlich Scholaren durch die Truppe des Prévôt getötet, Matthäus Paris, Chronica majora, hrsg. von Henry Richards Luard, Bd. 3, London 1876, S. 166ff.
<footnote data-anchor="fn4" data-id="anmerkung4">[4]</footnote> Herbert Grundmann: Vom Ursprung der Universität im Mittelalter, in: Ders. Ausgewählte Aufsätze, Teil 3: Bildung und Sprache (Schriften der Monumenta Germaniae Historica 25), Stuttgart 1978, S. 292‒342.
<footnote data-anchor="fn5" data-id="anmerkung5">[5]</footnote> Peter Classen: Die hohen Schulen und die Gesellschaft im 12. Jahrhundert, in: Archiv für Kulturwissenschaft 48, 1966, S. 155‒180.
<footnote data-anchor="fn6" data-id="anmerkung6">[6]</footnote> Jacques Verger: L’essor des univerités au XIIIe siècle, Paris 1998; Ders.: A propos de la naissance de l’université de Paris: Contexte social, enjeu politique, portée intellectuelle, in: Les universités francaises au moyen âge, hrsg. von dems. (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance 7), Leiden 1995 , S. 1‒36; Ders./Charles Vulliez: Naissance de l’université, in: Histoire des universités en France, hrsg. von Jacques Verger, Toulouse 1986; Ders.: Des écoles à l’universités: la mutation institutionelle, in: La France de Philippe Auguste. Le temps des mutations, hrsg. von Robert-Henri Bautier, Paris 1982, S. 817‒846; Ders.: Les universités au moyen âges, Vendôme 1973; siehe nun auch die einschlägige Studie von Nathalie Gorochov: Naissance de l’université: les écoles de Paris d’Innocent III à Thomas d’Aquin (v. 1200 ‒ v. 1245), Paris 2012.
<footnote data-anchor="fn7" data-id="anmerkung7">[7]</footnote> Stephen Ferruolo: The Origins of the University. The Schools of Paris and their Critics, 1100‒1215, Stanford 1985.
<footnote data-anchor="fn8" data-id="anmerkung8">[8]</footnote> Jacques Verger: A propos de la naissance (wie Anm. 6), S. 29.
<footnote data-anchor="fn9" data-id="anmerkung9">[9]</footnote> Randall Collins: The Sociology of Philosophies. A Global Theory of Intellectual Change, Cambridge 1998, S. 467.
<footnote data-anchor="fn10" data-id="anmerkung10">[10]</footnote> Frank Rexroth: Wie einmal zusammenwuchs, was nicht zusammengehörte: Ein Blick auf die Entstehung der europäischen Universität, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 2009 (erschienen 2010), S. 85‒98, hier S. 86.