Definition von „Quelle“
Was verstehen Sie unter dem Begriff „Quelle“? Natürlich kennen Sie das Wort und haben es in anderen Zusammenhängen schon verwendet. Einerseits gibt es das Naturphänomen: Dort, wo Wasser aus der Erde sprudelt, spricht man von einer Quelle. Der Begriff wird aber auch auf zwischenmenschliche Beziehungen übertragen – dann meint er meist „Informationsquelle“. Wahrscheinlich ist Ihnen in den Medien, zum Beispiel in Nachrichten, sozialen Netzwerken oder in Film, Fernsehen und Literatur schon einmal die Formulierung von „Informationen aus sicherer Quelle“ begegnet.
Begriffe, die der Alltagswelt entnommen sind, haben wegen der unterschiedlichen Bedeutungszusammenhänge manchmal ihre Tücken. Sobald wir uns wissenschaftlich austauschen (also zum Beispiel in universitären Seminaren und Vorlesungen), ist eine klare Verwendung von Begriffen sehr wichtig.
Beim Begriff „Quelle“ ist dies umso schwerer, weil andere Disziplinen ihn auch nutzen, aber anders als Historiker*innen: Häufig wird in nicht-geschichtswissenschaftlichen Zusammenhängen undifferenziert alles, was Informationen zu einem Thema bereitstellt, als Quelle bezeichnet. In der Geschichtswissenschaft gibt es einen spezifischen Quellenbegriff: Quellen meinen hier ausschließlich das Material, das aus der Zeit stammt, die der*die Historiker*in gerade untersucht. Die Historiker Georg Eckert und Thorsten Beigel bezeichnen aus genau diesem Grund Quellen als den „Rohstoff aller geschichtswissenschaftlichen Produkte“[1]. In Anlehnung an eine bekannte Definition des Historikers Paul Kirn kann man alle überlieferten Materialien „Quellen“ nennen, „aus denen Kenntnis der Vergangenheit gewonnen werden kann.“[2] Besonders der letzte Aspekt ist wichtig – denn Quellen bestimmen sich nicht nur dadurch, dass das Material überhaupt vorhanden ist. Zu „Quellen“ werden Überlieferungen aus der Vergangenheit dann, wenn Historiker*innen sie untersuchen, indem sie Fragen an sie richten; Material wird also von Historiker*innen zu Quellen gemacht.[3]
Aus diesem Grund hält der Historiker Johannes Fried „Quelle“ für „eine in die Irre führende Metapher. Sie assoziiert sprudelndes Leben, Unmittelbarkeit, Ursprung reinen Wissens, lautere Wahrheit. Die Texte, Gegenstände oder Sachverhalte aber, die mit diesem Namen belegt werden, führen von sich aus keinerlei Erkenntnis mit sich, keine Wahrheit, kein Leben, so daß Geschichte aus ihnen quölle wie frisches Wasser aus dem Boden.“ Tatsächlich, so Fried, sind es die Historiker*innen, die „sie immer wieder mit ihren Fragen wie mit Wasser füllen und auf diese Weise zum Sprudeln bringen. […] Wenn etwas tatsächlich sprudelt, dann dieses fragende Interesse, das jene Hinterlassenschaften umspült, freilegt, zusammenführt, zu etwas macht, zum Sprechen bringt und ihnen Sinn verleiht [...].“[4]
Hier wird besonders deutlich, warum für historische Untersuchungen (wie zum Beispiel Ihre schriftlichen Hausarbeiten) die leitende Fragestellung so zentral ist. Daraus folgt zugleich, dass der Quellenbegriff der Geschichtswissenschaft ausgesprochen weit ist: „Es gibt grundsätzlich nichts, das nicht ‚Quelle‘ werden könnte“, so bringt es Hans-Werner Goetz auf den Punkt.[5]
Das mögliche Material für die Geschichtswissenschaft ist also prinzipiell unbegrenzt. Auf der anderen Seite gilt außerdem, dass je nach Fragestellung ganz unterschiedliche Erkenntnisse aus ein und derselben Quelle gewonnen werden können. Heißt das aber, dass ich angesichts dieser Freiheit als Historiker*in mit meiner Fragestellung Beliebiges aus dem Quellenmaterial folgern darf? Der Historiker Reinhart Koselleck hat dazu den Begriff des „Vetorechts der Quellen“ geprägt und erklärt das wie folgt: „Streng genommen kann uns eine Quelle nie sagen, was wir sagen sollen. Wohl aber hindert sie uns, Aussagen zu machen, die wir nicht machen dürfen. Die Quellen haben ein Vetorecht. Sie verbieten uns, Deutungen zu wagen oder zuzulassen, die aufgrund eines Quellenbefundes schlichtweg als falsch oder als nicht zulässig durchschaut werden können. [...]. Quellen schützen uns vor Irrtümern, nicht aber sagen sie uns, was wir sagen sollen.“[6] Die Quellenüberlieferung kann also meiner „historischen Fantasie“[7] und meinen Thesen Grenzen setzen, weil alle Ausführungen auf Quellen basieren, anhand von ihnen belegt und plausibel gemacht werden müssen.
Bei der Arbeit mit Quellen ist es außerdem wichtig zu beachten, dass diese „nicht schon als solche geschaffen“ sind, sondern ein „unabhängiges Eigenleben“ aufweisen: Da die Materialien ja vergangenen Lebenswelten entstammen und dort spezifische Funktionen hatten, wollen sie „(fast immer) etwas Bestimmtes aussagen, aber nicht zwangsläufig das, was uns an ihnen interessiert.“[8] Neben der eigenen Fragestellung ist also auch die Einordnung der Quellen in ihre Entstehungskontexte zu berücksichtigen.
► Wiederholung und Anregung
- Warum braucht die Geschichtswissenschaft einen spezifischen Quellenbegriff?
- Ist jeder alte Gegenstand oder Text automatisch eine Quelle?
- Erklären Sie in eigenen Worten das abgebildete Schema: In welchem Verhältnis stehen die Begriffe „Vergangenheit“, „Gegenwart“, „Geschichte“ und „Quellen“? Warum sind „Vergangenheit“ und „Geschichte“ nicht dasselbe?
[1] Eckert, Georg / Beigel, Thorsten: Historisch Arbeiten. Handreichung zum Geschichtsstudium, Stuttgart 2018, S. 59.
[2] Vgl. Kirn, Paul: Einführung in die Geschichtswissenschaft, Berlin 1972, S. 29.
[3] Das formuliert auch Hiram Kümper sehr deutlich: „Es gibt keine Quellen, Quellen sind nicht, Quelle zu sein ist keine einem Ding oder einer Person eignende Eigenschaft, sondern sie werden zu Quellen gemacht – nämlich von demjenigen, der sie als solche für die Konstruktion seiner jeweiligen Interpretation von Vergangenheit nutzt.“ Kümper, Hiram: Materialwissenschaft Mediävistik. Eine Einführung in die historischen Hilfswissenschaften, Paderborn 2014, S. 18.
[4] Fried, Johannes: Wissenschaft und Phantasie. Das Beispiel der Geschichte, in: Historische Zeitschrift 263 (1996), S. 293f.
[5] Goetz, Hans-Werner: Proseminar Geschichte: Mittelalter, 4. Aufl., Stuttgart 2014, S. 92.
[6] Koselleck, Reinhart: Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt (1977), in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1989, S. 206. Vgl. dazu auch Jordan, Vetorecht der Quellen, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.02.2010, URL: http://docupedia.de/zg/Vetorecht_der_Quellen (abgerufen am 29.03.2023).
[7] Vgl. dazu noch einmal Fried: Wissenschaft und Phantasie.
[8] Goetz: Proseminar Geschichte, S. 92.