Unterscheidung Quelle/Literatur
In den anderen Teilen dieses Tutoriums wurde darauf hingewiesen, wie zentral Quellen für die geschichtswissenschaftliche Forschung sind. Die Quellenanalyse ist ein wichtiger, aber nicht der einzige Baustein historischen Arbeitens. Denn historische Forschung ist, und das ist genauso wichtig, immer ein Diskurs zwischen Fachleuten.[1] Laut Jürgen Kocka benötigen „[g]eschichtswissenschaftliche Forschungen und Darstellungen […] den Plural, die Kommunikation zwischen mehreren, den Austausch und die Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Positionen. Geschichtswissenschaft braucht den geregelten Streit.“[2]
Bereits vorliegende Positionen in diesen geschichtswissenschaftlichen Diskussionen begegnen Ihnen vor allem in den Texten, die Historiker*innen schreiben, der sogenannten Forschungsliteratur. In Ihren Hausarbeiten müssen Sie sich daher nicht nur mit Quellen, sondern auch mit Forschungsliteratur auseinandersetzen.
Aber wie lässt sich beides eigentlich unterscheiden? Für Stefan Jordan ist es ganz klar: „Entscheidend ist […] das Kriterium der erforschten Zeit. Entstammen historische Materialien der Zeitstufe, die wir erforschen wollen, dann handelt es sich um Quellen.“[3] Deshalb ist es wieder die Fragestellung, die wir an die Vergangenheit richten, die darüber entscheidet, was für uns die Funktion einer Quelle hat und was wir als Literatur verwenden. „Fachliteratur präsentiert Erkenntnisse, die anhand von Quellen erarbeitet wurden. Sie stützt sich also bereits auf Quellen und ist daher im Unterschied zu diesen nicht die ursprüngliche, erste Wurzel unserer historischen Kenntnis. Deswegen wird sie auch als Sekundärliteratur bezeichnet.“[4]
Weil die Unterteilung so sehr von der Fragestellung abhängt, und nicht im Alter des Materials begründet ist, kann je nach Fragestellung aber auch Forschungsliteratur zur Quelle einer wissenschaftlichen Arbeit werden.
Hierzu zwei Beispiele:
Beispiel 1: Wissenschaftliche Abhandlung aus dem 19. Jahrhundert über die Geschichte des „Schwarzen Todes“ im 14. Jahrhundert
- Möglichkeit 1 – Nutzung als Literatur: Fragestellung zum Pestgeschehen im Mittelalter (Verlauf, Verbreitung, Wahrnehmung im 14. Jahrhundert usw.): Das Buch aus dem 19. Jahrhundert ist dann (ver)alte(te) Forschungsliteratur, die sich ebenfalls schon mit diesem Thema beschäftigt hat.
- Möglichkeit 2 – Nutzung als Quelle: Historiographiegeschichtliche Fragestellung zum 19. Jahrhundert: Wie wurde die Pest im 19. Jahrhundert dargestellt, rezipiert, bewertet, usw.? Die untersuchte Zeit ist hier nicht das Mittelalter, sondern die Aufarbeitung der mittelalterlichen Pest im 19. Jahrhundert
Beispiel 2: Buch Olaf Groehlers aus dem Jahr 1990 mit dem Titel „Bombenkrieg gegen Deutschland“[5]
- Möglichkeit 1 – Nutzung als Literatur: Groehlers Ergebnisse sind zum Teil bis heute ein Forschungsbeitrag, der in eine wissenschaftliche Arbeit zum Zweiten Weltkrieg mit einbezogen werden kann.
- Möglichkeit 2 – Nutzung als Quelle, zum Beispiel für die Fragestellung, wie Historiker*innen in der DDR zu bestimmten Themen arbeiteten. Das Buch Groehlers kann dann als Beispiel für die relative Offenheit der DDR-Historiographie herangezogen werden.
Zwischen den beiden Kategorien Quelle und Literatur gibt es genau genommen eine Grauzone. So könnte man eine dritte Kategorie benennen, zu der Texte gehören, die Sie weder als Quelle noch als Literatur verwenden, sondern die Sie lediglich als Verweis auf eine öffentlich geäußerte Position verwenden: Ein Artikel aus einem Magazin oder ein Eintrag in der Wikipedia kann beispielsweise als aktueller Bezug oder als Einstieg in das von Ihnen behandelte Thema herangezogen werden.
Beispiel: Sie zitieren einen Artikel aus dem Magazin Der Spiegel über heutige Mittelaltermärkte, um von da aus auf Ihr Untersuchungsthema, zum Beispiel die Ernährung, Kleidung o. Ä. in der spätmittelalterlichen Stadt hinzuleiten. So können Sie aktuelle Vorstellungen einbeziehen und zitieren, auch wenn Sie das Material nicht als Grundlage Ihrer Analyse verwenden können. Wie Fachliteratur können Sie solche Publikationen in den meisten Fällen in Ihrem Quellen- und Literaturverzeichnis unter Literatur einordnen – es wäre aber auch denkbar, eine Kategorie „Weitere Materialien“ in das Verzeichnis einzufügen. Unabhängig davon gilt: Wenn Sie einen solchen Zeitungsartikel aber als Quelle für die Beantwortung einer geschichtskulturellen o.ä. Fragestellung nutzen, erfüllt er in Ihrer Arbeit die Funktion einer Quelle und muss dementsprechend auch in das Quellenverzeichnis eingefügt werden.
Für Sie ist es in jedem Falle wichtig, dass Sie die Fachliteratur, die Sie für Ihre Hausarbeiten verwenden können, auch als solche erkennen – weil das nicht immer einfach ist, können Ihnen folgende Kriterien dabei helfen:
- Nachprüfbarkeit des Inhalts: Gibt es Fußnotenbelege und ein Quellen- und Literaturverzeichnis, die den Ursprung der Informationen transparent machen und möglichst andere Positionen einbeziehen?
- Sind die Autor*innen und/oder Herausgeber*innen klar ermittelbar und einer wissenschaftlichen und/oder seriösen Einrichtung o. Ä. zuzuordnen? Legt der Verlag (zumindest auch) einen Schwerpunkt auf die Publikation wissenschaftlicher Beiträge?
- Ist der Text in einer sachlichen, nüchternen Sprache verfasst? Werden Fachtermini verwendet? Ist die Sprache grammatikalisch, orthographisch etc. korrekt?
- Anhaltspunkte für die Zitierfähigkeit bietet auch die Rezeption durch wissenschaftliches Fachpublikum: Gibt es Rezensionen? Ist die Publikation in wissenschaftlichen Bibliotheken verfügbar? (Achtung: eine einzige Bibliothek ist dafür nur begrenzt aussagekräftig – nutzen Sie im Zweifelsfall die erweiterte Suche über das Portal der USB Köln (Häkchen setzen bei „Deutsche Verbundkataloge (Fernleihe)“) oder die sehr umfangreichen Suchfunktionen des Karlsruher Virtuellen Katalogs, KVK).
Wenn Sie sich bei dieser Einschätzung nicht sicher sind, erkundigen Sie sich einfach bei der Lehrperson!
Leider ist es in vielen Hausarbeiten verbreitet, dass sämtliche digitalen Materialien unter der Kategorie „Internetquellen“ im Verzeichnis auftauchen – das ist in den meisten Fällen nicht korrekt! Auch hier müssen Sie sorgfältig zwischen untersuchten Quellen, verwendeter Literatur und ggf. weiteren Materialien nach den oben genannten Merkmalen unterscheiden – allein die Tatsache, dass etwas online erschienen ist, ist für die Unterscheidung kein ausreichendes Kriterium.
Beispiel: Ein wissenschaftlicher Blogbeitrag oder ein E-Book als pdf-Datei sind weiterhin meistens Literatur, auch wenn sie online zu finden sind. Betiteln Sie in Ihrer Arbeit wirklich nur das als Quelle, was Sie im geschichtswissenschaftlichen Sinne als Quelle herangezogen haben!
► Wiederholung und Anregung
- Was meint Jürgen Kocka, wenn er von „geregeltem Streit“ unter Historiker*innen spricht?
- Angenommen, Sie haben in Ihrer Hausarbeit elf Texte verwendet. Wie unterscheiden Sie, welche in das Quellen- und welche in das Literaturverzeichnis gehören?
- Sie konsultieren ein Buch bei Google Books, das in der Bibliothek gerade entliehen ist. Was ändert sich an der bibliografischen Angabe?
- Sie lesen die Hausarbeit einer Freundin Korrektur, die auch Geschichte studiert. Im Anhang ihrer Arbeit lautet eine Überschrift „Internetquellen“: Welchen Kommentar schreiben Sie ihr an den Rand und wie erklären Sie Ihren Verbesserungsvorschlag?
[1] Vgl. Daniel, Ute: Clio unter Kulturschock. Zu den aktuellen Debatten der Geschichtswissenschaft. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 48 (1997), S. 195–219 u. 259–278, hier S. 276.
[2] Kocka, Jürgen: Geschichte als Wissenschaft. In: Budde, Gunilla; Freist, Dagmar, Gütnher-Arndt, Hilke (Hrsg.): Geschichte. Studium – Wissenschaft – Beruf. Berlin 2008, S. 12-31, hier S. 22.
[3] Jordan, Stefan: Einführung in das Geschichtsstudium. Ditzingen 2019, S. 68.
[4] Emich, Birgit: Geschichte der Frühen Neuzeit (1500–1800) studieren. München 2019, S. 33f.
[5] Groehler, Olaf: Bombenkrieg gegen Deutschland. Berlin 1990.