Erlebnis Quelle
Ein vergilbtes Blatt. An den Rändern leicht eingerissen. Ein eingetrockneter Wasserfleck im unteren Bereich. Die Tinte hebt sich deutlich spürbar ab. So liegt das Dokument auf dem Archivtisch vor Ihnen. Während Sie das Blatt umdrehen und Ihnen ein erdig-holziger Geruch in die Nase steigt, wird Ihnen klar: Was Sie hier in den Händen halten, ist beinahe 500 Jahre alt!
Es kann äußerst faszinierend sein, sich mit einem Zeugnis zu beschäftigen, von dem man aus guten Gründen annehmen darf, dass es längst vergangenen Zeiten entstammt, und das vielfältige Spuren der Vergangenheit in sich trägt. Diese Vorstellung, die mitunter beinahe als eine Art „Aura“ des Vergangenen erlebt wird, ist aber nur ein Aspekt, der die Beschäftigung mit historischen Zeugnissen so spannend macht. Den unterschiedlichen Facetten der Arbeit mit solchen Quellen geht dieses Tutorium nach.
„Quelle“ – für die Geschichtswissenschaft ist dieser Begriff so zentral wie kaum ein anderer. Vor dem Versuch, diesen Begriff genauer zu definieren und zu erklären, soll eine einfache Überlegung am Beginn dieses Tutoriums stehen: Einerseits entstammen historische Quellen der Zeit, die wir in unserem aktuellen Forschungsprojekt untersuchen möchten, sie sind eindeutig Zeugnisse der Vergangenheit – aber andererseits sind sie interessanterweise genau das, was aus dieser Vergangenheit noch „übriggeblieben“, also eben nicht vergangen ist. Wenn sie nicht in der Gegenwart vorhanden wären, könnten Historiker*innen ja gar nicht mit ihnen arbeiten. Der Schriftsteller Frank Schätzing hat einmal das anschauliche Bild formuliert, „dass die Vergangenheit Artefakte anspült, so wie das Meer Treibgut.“[1]
Historiker*innen sind auf dieses „Treibgut“ (das in unseren Gesellschaften vor allem in Archiven professionell gesammelt und aufbewahrt wird) angewiesen, um Deutungen der Vergangenheit zu erarbeiten und so zu Erkenntnissen zu gelangen. Der einflussreiche Historiker Johann Gustav Droysen hat diesen Zusammenhang bereits im 19. Jahrhundert erkannt und formuliert: „Der erste Schritt zur richtigen historischen Erkenntnis ist die Einsicht, daß sie es zu tun hat mit einer Gegenwart [!] von Materialien. Da sind [...] Überbleibsel aller Art, von denen wir freilich wissen, daß ihr Ursprung in andere und andere Zeiten hinaufreicht; aber sie liegen uns so gegenwärtig vor, daß wir sie erfassen können, und nur weil sie so noch in der Gegenwart stehen, können wir sie erfassen und u. a. als Material historischer Forschung benutzen.“[2]
Die Auseinandersetzung mit jedem Quellenzeugnis ist durchaus ein Erlebnis – und zugleich ein Wagnis, auf das sich Historiker*innen einlassen: Da die Quellen nicht einfach für sich sprechen, sind es vor allem die sich stetig verändernden Fragen der Geschichtswissenschaft, die bestimmte Materialien überhaupt erst zu Quellen machen und diese Materialien mithilfe bestimmter Verfahren (Methoden) immer wieder zum Sprechen bringen. Anders als viele andere Wissenschaftsdisziplinen ist die Geschichtswissenschaft dabei nicht auf eine bestimmte Form von Material beschränkt – „prinzipiell kann ‚alles‘ [!] als Arbeitsmaterial für die historische Forschung herangezogen werden"[3], wie es Stefan Jordan formuliert. Obwohl sich bestimmte Anforderungen und Arbeitsschritte für die Quellenanalyse angeben lassen – was dieses Tutorium Ihnen erläutern wird –, handelt es sich dabei auch um einen kreativen Prozess, der immer wieder zu überraschenden Ergebnissen führt.
Geschichte ist ein Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart,[4] was die folgende Grafik anschaulich zusammenfasst. Nirgendwo wird diese Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart deutlicher als in der Beschäftigung mit Quellen.
► Wiederholung und Anregung
- Schauen Sie sich um: Ist in Ihrer Nähe „Treibgut“ aus der Vergangenheit? Aus welcher Zeit wurde es bei Ihnen „angespült“? Könnte dieses Artefakt für Sie zur Quelle werden?
- Historische Quellen gehören der Gegenwart an und nicht der Vergangenheit. Erläutern Sie diesen Satz und nehmen Sie dazu Stellung!
- Erklären Sie in eigenen Worten das abgebildete Schema: In welchem Verhältnis stehen die Begriffe „Vergangenheit“, „Gegenwart“, „Geschichte“ und „Quellen“?
[1] Schätzing, Frank: Geschichtsschreibung – Das will ich archiviert sehen!, in: faz.net (28.9.2015), URL: https://www.faz.net/-hp7-88a9p (Abrufdatum: 29.03.2023).
[2] Droysen, Johann Gustav: Historik. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 1: Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857), Grundriß der Historik in der ersten handschriftlichen (1857/1858) und in der letzten gedruckten Fassung (1882), hrsg. von Peter Leyh, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, S. 9. Vgl. dazu auch: „Das Gegebene für die historische Forschung sind nicht die Vergangenheiten, denn diese sind vergangen, sondern das von ihnen in dem Jetzt und Hier noch Unvergangene [...].“ Ebd., S. 422.
[3] Jordan, Stefan: Einführung in das Geschichtsstudium, Stuttgart 2019, S. 68.
[4] Vgl. Kocka, Jürgen: Geschichte als Wissenschaft, in: Budde, Gunilla / Freist, Dagmar / Günther-Arndt, Hilke (Hrsg.), Geschichte. Studium – Wissenschaft – Beruf, Berlin 2008, S. 12–31. Kocka betont, dass „Geschichte nicht identisch ist mit Vergangenem, sondern im Kern eine Relation, ein Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart darstellt.“ Ebd., S. 15.