Von der Frage zur Quelle. Der Weg der Recherche
Vorweg bemerkt: Wer im Archiv recherchiert, benötigt Geduld und Frustrationstoleranz. Es existiert wohl kein anderes Informationsmedium, bei dem das Verhältnis zwischen Zeitaufwand und quantitativem Ertrag derart miserabel ausfällt. Aber: Wer nicht aus fünfzig Büchern das 51. zusammenschreiben will, dem bleibt kaum eine andere Möglichkeit. Archivalien bieten nicht nur die Chance, Unbekanntes zu entdecken und neues Wissen zu schaffen, sondern auch die Grundlage dafür, in Ehren ergraute wissenschaftliche Erkenntnisse an der Quelle zu überprüfen und gegebenenfalls mit besserer Beweiskraft vom Sockel zu stoßen.
Die richtigen Archive ermitteln: Grundsätzliche Überlegungen
Eine gewisse Hilflosigkeit beim ersten Schritt von der Fragestellung zum Archiv ist nur allzu verständlich. Oft ist es banal klar, welches Archiv das richtige ist, doch häufig erschließt sich diese Materie selbst Professionellen nicht ohne weiteres.
Bevor Sie sich vor den Computerbildschirm setzen, können ein paar grundsätzliche, strukturelle Überlegungen auf die richtige Spur führen.
Die räumliche Zuständigkeit der Archive
Jedes Archiv hat einen räumlichen Zuständigkeitsbereich, den so genannten "Archivsprengel". Konkret ausgedrückt, kümmert sich ein Archiv z.B. um die angemessene Überlieferung aller kirchlichen Amtsstellen in der Diözese, aller Landesbehörden im Regierungsbezirk, aller Unternehmen, Kammern und Wirtschaftsverbände im Bundesland. Diese Angabe gehört zu den Basisinformationen, die Sie auf jeder Archiv-Homepage finden.
Das gilt nicht umgekehrt. Sobald Sie mehr als nur eine simple Frage beantwortet bekommen möchten, werden Sie entdecken, dass Quellen dazu in mehreren Archiven liegen, vielleicht sogar mehrere Archivarten zu berücksichtigen sind. An einem Beispiel sei dies verdeutlicht: Im Kommunalarchiv liegen alle Unterlagen zur Stadtgeschichte? Keineswegs! Eine Stadt lag und liegt gleichsam im Schnittpunkt des Interesses verschiedener geistlicher, weltlicher und privater Institutionen. Sie alle haben ihre Schriftzeugnisse hinterlassen. Das gilt auch für Teilgebiete der Stadtgeschichtsforschung, wie das "Schema einer Archivrecherche nach einem lokalen Forschungsgegenstand" demonstriert.
Die staatsrechtlich-administrative Zugehörigkeit des Untersuchungsgegenstands
Oft können Sie Ihren Untersuchungsgegenstand – ein Dorf, Schloss, Wirtschaftsunternehmen ohnehin, aber auch Personen – einem Territorium zuordnen. Selbst „das Heiratsverhalten ...“ oder „Kommunikation und Netzwerke ...“ fanden nicht nur in einer bestimmten Zeitspanne, sondern auch in einem bestimmten (politischen) Raum statt. Bei Ihrer Überlegung: In welcher Herrschaft, in welchem Staatsgebiet spielte sich das ab? sind die bekannten politischen Umbrüche zu berücksichtigen, insbesondere die Säkularisierungen im 16. und 19. Jahrhundert, die Mediatisierung im 19. Jahrhundert, die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts. Es gilt das Prinzip der so genannten "Archivfolge", das bedeutet: Das Archiv folgt der Herrschaft. Beispiele: So gelangten die Verwaltungsunterlagen des Esslinger Katharinenhospitals in der Reformationszeit unter die Obhut der Reichsstadt und sind heute im Stadtarchiv zu benutzen. Der Landgraf von Hessen übernahm 1533 mit dem Kloster Haina auch dessen Urkunden, die heute im Staatsarchiv Marburg liegen. Die Akten der Provinzialverwaltung Brandenburg im Landeshauptarchiv Potsdam beziehen sich selbstverständlich auf alle zur Provinz Brandenburg gehörigen Gebiete, auch die östlich der Oder. Das 1945 geflüchtete Staatsarchiv Königsberg wird seither von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz im Geheimen (das heißt nur noch so) Staatsarchiv zu Berlin gepflegt.
Ein Beispiel für ein solches örtlich gebundenes Sachthema ist die - bis heute nicht vollständig geklärte - Donauversickerung. Hier berücksichtigen Sie einfach die archivische Überlieferung aller Verwaltungsebenen, von den staatlichen Zentralbehörden über die sogenannten nachgeordneten staatlichen Behörden und weiter über den Landkreis bis zur benachbarten Kommune, wie das "Schema einer Archivrecherche nach einem Sachthema" beispielhaft zeigt. Wenn Sie dann noch an die Staatsbetriebe im Regionalen Wirtschaftsarchiv denken, dürften Sie die wesentlichen Archivquellen erfasst haben.
Die sachliche Zuständigkeit für den Untersuchungsgegenstand
Immer in Bezug zur Fragestellung sollten Sie herausfinden, welche Behörden - häufig handelt es sich um mehrere - für das interessierende Sachgebiet zuständig waren.
Ein klassisches Beispiel für diese Frage ist der Verwaltungsbereich "Kirche", der für beide christlichen Konfessionen bis ins 19 Jahrhundert hinein das zumal niedere Schulwesen organisierte. Wenn Sie also z.B. zur "Elementarbildung im Zeitalter der Aufklärung" forschen möchten, dann sollten Sie zunächst die regional zuständigen kirchlichen Archive aufsuchen. Ebenso führten kirchliche Stellen bis 1876 die Personenstandsregister, wesentliche Quelle in genealogischen Fragen. Seit 2009 sind die Stadtarchive für die Geburten-, Heirats- und Sterbebücher der Standesämter zuständig.
Angenommen, Sie möchten Quellen zur „Vereinheitlichung der Zeitmessung“ auswerten – wer wäre oder ist heute in Deutschland dafür zuständig? Die Zentralbehörden, vor allem das Innenministerium. Ebenso verhielt es sich in Württemberg im 19. Jahrhundert (siehe unten).
Leider folgen behördliche Zuständigkeiten keinem einheitlichen Schema, das man lernen könnte. Dass in Württemberg im 19. und 20. Jahrhundert das Sachgebiet "Statistik und Landesbeschreibung" dem Ressort des Finanzministeriums zugeteilt war, in Baden hingegen dasselbe Sachgebiet zunächst zum Handels-, später zum Innenministerium gehörte – wer außer den Spezialisten in den Staatsarchiven sollte das wissen? Suchen Sie also deren Rat.
Einen Überblick über die Materie bieten Verwaltungshandbücher, die in jedem besseren Archiv im Benutzersaal stehen (Beispiel: Alfred Dehlinger, Württembergs Staatswesen in seiner geschichtlichen Entwicklung bis heute, 2 Bände 1951 und 1953 - siehe unten). In einzelnen Jahrgängen sehr ausführliche Aufgabenbeschreibungen der Ministerien und ihrer untergeordneten Abteilungen bieten die Hof- und Staatshandbücher des 19. Jahrhunderts.
Für die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft gilt es zu berücksichtigen, dass es zur Politik der Nazis gehörte, reguläre Behördenzüge aufzubrechen und parallel zur hergebracht zuständigen Stelle den "Sonderbeauftragten des Führers / Reichsstatthalters / Gauleiters / Oberbürgermeisters für das Sowiesowesen" zu installieren. Auf Reichsebene liegen dessen Unterlagen im Bundesarchiv. Auf Länder-, regionaler und kommunaler Ebene lief dies auf eine schräge, oft kaum rational nachzuvollziehende mehrfache Teilüberlieferung hinaus. Konkret: Unterlagen über Zwangsarbeiter oder die Denunziation bei der Geheimen Staatspolizei oder die Lebensmittelversorgung während des Zweiten Weltkriegs müssen so ungefähr überall vermutet werden.
Das gleiche gilt für schriftliche Nachlässe, die außer in Archiven auch von Bibliotheken und Museen verwahrt werden. Im Zeitalter des Internet helfen die Zentrale Datenbank Nachlässe des Bundesarchivs und das Kalliope-Portal der StaBi Berlin .
Über Möglichkeiten der Archivrecherche bei einer biografischen Fragestellung ist kürzlich ein Aufsatz von Jürgen Treffeisen erschienen.