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Archivgesetze und Sperrfristen bei Archivalien
Abgesehen vom staatlichen Schriftgut der untergegangenen DDR unterliegen Archivalien in Deutschland gesetzlich fixierten Sperr- und Schutzfristen; das bedeutet, nur diejenigen, die bestimmte Unterlagen selbst produziert haben - oder von ihnen autorisierte Personen - dürfen sie vor Ablauf der Frist einsehen.
Diese Sperrfristen sind nicht als Schikane erdacht worden. Sie bilden sozusagen den Kompromiss zwischen zwei einander widersprechenden Rechtsgütern, nämlich einerseits dem Grundrecht der Informations- und Wissenschaftsfreiheit nach Artikel 5 Grundgesetz, zu dem auch das Recht gehört, sich "aus allgemein zugänglichen Quellen" auch in Archiven "ungehindert zu unterrichten", andererseits dem im Volkszählungs-Urteil des Bundesverfassungsgerichts 1987 erkannten Recht jeder Einzelperson auf informationelle Selbstbestimmung - etwas vulgarisiert auch bekannt unter dem Begriff "Datenschutz". Behörden dürfen Daten über uns Bürger nur sammeln und speichern, soweit sie diese Daten unmittelbar für hoheitliche Verwaltungsakte benötigen. Als Konsequenz hieraus müsste jede Behörde die spannendsten Teile ihres Schriftguts komplett vernichten, sobald der betreffende Verwaltungsakt abgeschlossen ist. Keine Akte, in der eine Person vorkommt, würde mehr in ein Archiv gelangen.
Um also den Widerspruch zwischen dem Schutz des Einzelnen vor einem Überwachungsstaat und dem Recht der Öffentlichkeit auf ungehinderte Information aus allen Quellen aufzulösen, hat die Legislative in Bund und Ländern die Archivgesetze beschlossen, darin unter anderem Sperrfristen für die öffentliche Einsichtnahme festgelegt. Die Unterschiede in den Archivgesetzen der 16 Länder und des Bundes wirken sich auf die Benutzung allenfalls ausnahmsweise aus. Überwiegend gilt:
Sachakten
Sachakten und andere sachbezogene Informationsträger (wie Bilder, Neue Medien oder museale Gegenstände) werden 30 Jahre nach ihrem Entstehen zur öffentlichen Einsicht frei. Bei Akten mit einer "Laufzeit" über mehrere Jahre beginnt die Sperrfrist in dem Jahr abzulaufen, das auf das Datum des letzten essentiellen Schriftstücks folgt. Konkretes Beispiel: Das letzte wesentliche Schreiben datiert auf 17. Mai 1973, dann beginnt die Sperrfrist am 1. Januar 1974 abzulaufen und endet mit dem 31. Dezember 2003. Vermerke à la "Akte entliehen / 9.11.89 / Meyer II" sind keine wesentlichen Einträge und begründen somit auch keine Verlängerung der Sperrfrist.
Bei Unterlagen, die der besonderen Geheimhaltung unterliegen, verdoppelt sich die Sperrfrist auf 60 Jahre. In der Praxis gelten als besonders geheim in diesem Sinne Steuerunterlagen, Krankenakten, Sozialdaten und dergleichen. In periodischen Abständen geistert die Debatte "Alle Personennamen müssen geschwärzt werden!" durch die Zeitungen. Um eben dies zu verhindern, haben Archivare in umstrittenen Fällen solche langen Sperrfristen in die Gesetzesvorlagen geschrieben.
In privaten, etwa Adels- oder Unternehmensarchiven könnte es Ihnen passieren, dass Unterlagen mit astronomisch anmutenden Sperrfristen von 50 oder 100 Jahren versehen sind. Doch bevor Sie sich darüber ärgern, bedenken Sie bitte, dass alternativ mit hoher Wahrscheinlichkeit die Vernichtung erfolgt wäre, und dass Sie eine Akte, die immerhin noch existiert, nach einem Antrag auf verkürzte Sperrfrist vielleicht doch einsehen dürfen. Zum Beispiel möchte ich den Vorstand einer bestimmten Bank sehen, der trotz Verkürzungsantrags auf seiner 60-Jahres-Frist beharrt und entsprechend etwa die Protokolle des Jahres 1945 noch immer unter Verschluss hält.
Personenbezogenes Archivgut
Was personenbezogenes Schriftgut sei, darüber bestehen im Bund und den verschiedenen Ländern leider leicht unterschiedliche Definitionen. Jedenfalls darf das bloße Vorkommen eines oder mehrerer Namen nicht zur Sperrung führen. Das Material muss vielmehr "nach seiner Zweckbestimmung" oder seinem "wesentlichen Inhalt" auf eine natürliche Person bezogen sein, also z.B. als Personalakte. Vor allem schützt der Geist des Gesetzes passiv erfasste Personen, beispielsweise die Patientin in der Psychiatrieakte oder die als Zeugen verhörten Jungen in der Pädophilieprozessakte aus dem Jahr 1940.
Die Sperr- und Schutzfristen dauern hierbei bis 10 Jahre nach Tod der betreffenden Person (Archivgut des Bundes, von Rheinland-Pfalz, Saarland und Sachsen-Anhalt: 30 Jahre). Grundsätzlich obliegt es dem Nutzungsinteressenten, gegebenenfalls den Todeszeitpunkt nachzuweisen. Doch sofern das Todesjahr nicht oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand zu ermitteln wäre, greift alternativ die Sperrfrist von 90 Jahren nach Geburt (Bund und die 3 genannten Länder: 110 Jahre).
Die Divergenz dieser Gesetzespassagen lässt sich so wenig abstreiten wie ein Hauch von Willkür und Inkonsequenz. Doch träfe letzteres wohl auch auf jede andere Regelung zu.
NICHT geschützt, also wie andere Sachakten nach 30 Jahren freigegeben, sind Unterlagen, mit denen Amtsträger amtlich gehandelt haben, also das dienstliche Schriftgut von z.B. 1933 berufenen Universitätsrektoren und Oberbürgermeistern, von Gauleitern, Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes, Wehrmachtsoffizieren, Leiterinnen von Frauen-KZ, usw. usf. - es sei denn, in solchen Unterlagen passiv erfasste Personen würden eine Schutzfrist begründen.
Hinsichtlich der Sperrung oder Freigabe personenbezogenen Schriftguts macht es vor dem Gesetz überhaupt keinen Unterschied, ob die dokumentierte Person vor dem Richterstuhl der Historie als "Täter" oder als "Opfer" erscheint. Die Nachkriegs-Krankenakte eines üblen Nazi-Schergen ist ebenso bis zehn Jahre nach dessen Tod gesperrt, wie das Protokoll einer Sterilisation "zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" bis zehn bzw. 30 Jahre nach dem Tod des 1954 geborenen Kindes dieses Zwangssterilisierten verschlossen bleibt.