Wie funktioniert eine geschichtswissenschaftliche Untersuchung?
Die Bedeutung der Formalia
„Eine Seminararbeit kann dann als geglückt bezeichnet werden, wenn sie methodisch begründete Ergebnisse in gegliederter Form wiedergibt und dabei alle […] formalen Kriterien in korrekter Form berücksichtigt.“[1]
So bringt der Historiker Stefan Jordan die Anforderungen an Ihre Hausarbeiten in seiner bekannten Einführung in das Geschichtsstudium auf den Punkt. In Ihren Arbeiten können Sie immer wieder zeigen, dass Sie die Prinzipien wissenschaftlichen Arbeitens verinnerlicht haben und in der Lage sind, Ihr jeweiliges Thema auf dieser Grundlage professionell zu untersuchen.
Stefan Jordans Zitat macht die hohe Relevanz der korrekten formalen Gestaltung deutlich, die als zentrale Anforderung an jede Ihrer Arbeiten gestellt wird. Aber warum ist das eigentlich so? Die kurze Antwort lautet: Die Formalia sind die Voraussetzung von Wissenschaftlichkeit! Wie Sie in Ihren Lehrveranstaltungen lernen werden, ist das Herz der Geschichtswissenschaft die Fachdiskussion, in der über die Deutung von historischen Ereignissen gestritten wird. Die Vertreter*innen des Faches sind sich weitestgehend darin einig, dass eine einfache, objektive Abbildung der vergangenen Realität aus prinzipiellen Gründen unmöglich ist. Geschichte kann niemals dasselbe sein wie Vergangenheit und eine eindeutige, ewiggültige Wahrheit gibt es in den Geisteswissenschaften nicht.
Stattdessen gibt es Streit – und zwar konstruktiven, produktiven Streit. Die Historiker*innen ringen um die besten Argumente mit dem Ziel, ihre kritischen Kolleg*innen und bestenfalls die Öffentlichkeit von ihren Analyseergebnisse, ihren Thesen (also ihren begründeten wissenschaftlichen Behauptungen)[2] und ihren Interpretationen zu überzeugen. Auch Ihre Hausarbeiten machen selbstverständlich keine Ausnahme. Deshalb muss es Ihr Ziel sein, Ihre Untersuchungsergebnisse und Schlussfolgerungen den Leser*innen möglichst überzeugend nahezubringen.
Damit das gelingen kann, müssen die Leser*innen Ihrer Argumentation gut folgen können und sie müssen jede Ihrer Bezugnahmen auf andere Materialien nachvollziehen können. Das gilt nicht nur für Zitate, sondern auch für Zusammenfassungen anderer Materialien und überhaupt fast alle der von Ihnen genannten Informationen! Nur wenn alles, was Sie behaupten und worauf Sie Ihre Thesen gründen, kritisch nachgeprüft werden kann, wird man sich eine sinnvolle Meinung darüber bilden können, ob Ihre Arbeit überzeugen kann oder nicht. Das ist der Grund, warum es Übereinkünfte braucht, die Ihre wissenschaftliche Arbeit und vor allem die Nutzung externer Materialien einheitlich und möglichst effizient überprüfbar machen. Georg Eckert und Thorsten Beigel bringen es in ihrer Einführung Historisch Arbeiten auf den Punkt: „Einheitlichkeit und Eindeutigkeit. Diese formalen Standards sind niemals verhandelbar.“[3]
Dazu kommt, dass Ihre Arbeiten sprachlich präzise und korrekt sein müssen und einen stringenten roten Faden brauchen, damit Ihre Leser*innen den Gedankengang Ihrer Ausarbeitung nachvollziehen können und Sie richtig verstehen. Weil Sie in Ihren Arbeiten Ihre Erkenntnisse im Regelfall sprachlich darstellen (Geschichtswissenschaft braucht immer eine Form der Darstellung), kommt es entscheidend darauf an, dass Sie Ihren sprachlichen Ausdruck beherrschen und professionalisieren.
Auch wenn Ihnen die Konventionen für wissenschaftliche Arbeiten vielleicht manchmal als streng und „versessen“ auf Formalia erscheinen mögen: Sie sind kein Selbstzweck und erst recht keine Schikane, sondern sie machen die Geschichtswissenschaft als Fachdisziplin überhaupt erst möglich – und sie stellen sicher, dass das Wesentliche im Vordergrund steht: Ihre Herangehensweise an das Thema, Ihre Argumente und Ihre Schlussfolgerungen. Die Formalia werden auf den folgenden Seiten noch genauer erläutert. Doch was untersuchen Sie in Ihrer Arbeit eigentlich genau? Darum geht es in den nächsten Abschnitten.
Historisches Arbeiten im Überblick
Gerade zu Beginn fragen Sie sich im Studium vielleicht: Was tue ich eigentlich hier? Und was soll ich tun? Eine Hausarbeit stellt eine geschichtswissenschaftliche Untersuchung dar,[4] so viel ist klar – was dabei genau untersucht wird, ist aber gar nicht so einfach zu benennen. Eine Blaupause des historischen Arbeitens stellt sicherlich immer noch ein klassischer Dreischritt dar, den Johann Gustav Droysen im Rahmen seiner Historik bereits im 19. Jahrhundert als „historisch-kritische Methode“[5] ausformuliert hat:
- Heuristik (= „Findekunst“): Sie entwickeln Ihre Fragestellung und versuchen, ausgehend davon, vorliegende Forschungsliteratur sowie mögliche historische Quellen zu finden, um diese Fragestellung zu bearbeiten.
- Kritik: Sie untersuchen Ihr Quellenmaterial und analysieren dieses kritisch (z. B. überprüfen Sie den „Informationsgehalt […], d. h. die Zeitnähe, Wahrnehmungsperspektive, Wertungstendenz, Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit“[6]). Oft werden dabei „äußere“ und „innere Quellenkritik“ unterschieden.
- Interpretation: Die ausgewerteten Quellen beziehen Sie – vor dem Hintergrund Ihrer Fragestellung – so aufeinander und auf den bisherigen Forschungsstand, dass eine Deutung, ein Gesamtergebnis Ihrer Analyse entsteht, meist in die Form einer textlichen Darstellung gegossen. Auch die anderen beiden Schritte haben Anteile von „Interpretation“ in sich, aber erst hier entsteht die übergeordnete „historische Bedeutung“[7] und der spezifische Sinn der Ergebnisse Ihrer Analyse.
Dieser Dreischritt gilt im Prinzip bis heute und es ist immer wieder hilfreich, sich an dieses Schema zu erinnern. Seine drei Bestandteile sind allerdings relativ abstrakt – die Schritte sind eher eine grundsätzliche Systematik, die hinter dem historischen Forschen steht (genau um eine solche ging es in Droysens Werk „Grundriss der Historik“) und weniger eine echte Schritt-für-Schritt-Anleitung.
Denken Sie stets an den spezifischen Quellenbegriff der Geschichtswissenschaft – er wird in den Lehrveranstaltungen Ihres Geschichtsstudiums immer wieder diskutiert werden. Stefan Jordan schreibt dazu:
„Die Geschichtswissenschaft ist nicht wie andere Wissenschaften auf einen bestimmten Gegenstand eingegrenzt. Prinzipiell kann ‚alles‘ als Arbeitsmaterial für die historische Forschung herangezogen werden. Man trennt dabei nur die so genannten Quellen von den so genannten sekundären Materialien [häufig: „Literatur“ oder „Forschungsliteratur“ genannt, Anm. d. Verf.]. Für diese Unterscheidung zwischen Quellen und sekundären Materialien ist weder das Kriterium der Schriftlichkeit noch das des Alters ausschlaggebend. […] Entscheidend ist vielmehr das Kriterium der erforschten Zeit. Entstammen historische Materialien der Zeitstufe, die wir erforschen wollen, dann handelt es sich um Quellen. Sind sie später entstanden [wie z. B. wissenschaftliche Untersuchungen zur von Ihnen erforschten Zeit, Anm. d. Verf.], dann zählen sie zu den sekundären Materialien.“[8]
Um den Blick auf Ihre wissenschaftliche Arbeit zu konkretisieren, kann es hilfreich sein, wenn Sie in diesem Zusammenhang folgende Oberbegriffe voneinander unterscheiden: „Fragestellung“, „These“, „Thema“ und „Gegenstand“. Was damit gemeint ist, gehen wir gleich im Einzelnen durch. Wichtig ist aber vorab noch ein Hinweis: Im Arbeitsprozess bedingen sich diese verschiedenen Untersuchungsbegriffe gegenseitig – so wird es zum Beispiel passieren, dass Sie Ihre Fragestellung oder Ihre Thesen im Laufe der Bearbeitung immer wieder etwas anpassen. Auch die Lektüre der bereits vorliegenden Forschungsliteratur und vor allem die Suche nach möglichen historischen Quellen sowie deren Auswertung verändern Ihren Blick immer wieder – manchmal mehr, manchmal weniger. Lassen Sie sich davon nicht beirren! Eine wissenschaftliche Arbeit fällt nicht vom Himmel, sie ist vielmehr ein echter Prozess.
Thema & Gegenstand
Das Thema Ihrer Untersuchung ist das historische Phänomen oder der historische Zusammenhang, mit dem Sie sich beschäftigen oder auch „das, was Sie eigentlich interessiert“[9] – hier aber in einem allgemeinen Sinne gemeint. Beispiele könnten sein „Armut im 19. Jahrhundert“ oder „Gewalt im Dreißigjährigen Krieg“. Wichtig ist: Das Thema lässt sich prinzipiell nicht vollumfänglich „abarbeiten“ und erledigen – eigentlich führt es Sie überhaupt nicht zu konkreten Untersuchungsschritten. Sie brauchen daher eine tatsächlich umsetzbare Umformulierung und Zuspitzung innerhalb des thematischen Rahmens, was zur Unterscheidung zwischen Thema und Untersuchungsgegenstand führt.[10]
Das Thema können Sie sich dabei als den allgemeinen Hintergrund Ihrer Arbeit vorstellen.
Das, was Sie sich – gewissermaßen als Ausschnitt des allgemeineren Themas – „tatsächlich“ genauer ansehen und behandeln, ist der eigentliche Gegenstand Ihrer Arbeit, häufig auch Untersuchungsgegenstand genannt. Er ist der Aspekt der historischen Wirklichkeit, den Sie mit Ihrer Arbeit konkret bearbeiten – im Idealfall, um später differenziertere Aussagen über das Thema zu ermöglichen.
Verallgemeinerungen sind in der Geschichtswissenschaft selten möglich und mit Vorsicht zu genießen, denn wir suchen nicht nach allgemeinen Gesetzen (wie es sog. „nomothetische“ Wissenschaften tun), sondern nähern uns (meist über aussagekräftige (Einzel-)Fälle) exemplarisch den historischen Phänomenen an (dieses Verfahren nennt man „idiografisch“). Trotzdem verweisen einzelne Untersuchungsgegenstände wie Mosaiksteine auf ein großes, meist tatsächlich eher „buntes“ und unübersichtliches Bild des historischen Themas.
Der Gegenstand einer Arbeit ist zum Beispiel durch räumliche, zeitliche, soziale, theoretische oder andere Gesichtspunkte definiert,[11] man kann den Gegenstand aber auch z. B. durch eine bestimmte Quellengattung fassen, die wiederum anhand einschlägiger Fallbeispiele bearbeitet werden kann.
Fragestellung
Der zentrale Dreh- und Angelpunkt Ihrer Hausarbeit ist Ihre Fragestellung. Thorsten Beigel und Georg Eckert nennen es auch das „Untersuchungsprogramm Ihrer Arbeit“ – und Birgit Emich schreibt über die Fragestellung: „Sie verleiht Ihrer Arbeit das, was sie braucht: analytischen Biss und einen roten Faden.“[12]
Dieser rote Faden entsteht vor allem aus der Voraussetzung, dass die (deshalb häufig auch als „leitend“ bezeichnete) Fragestellung Ihnen hilft, sich zu fokussieren:
„Eine Fragestellung zu haben, heißt schlicht, einen ausgewählten Aspekt erklären zu wollen – und eben nicht: alles. Es bedeutet die gezielte Verengung der Quellenanalyse auf ein besonderes Erkenntnisziel, das Sie selbst bestimmen: unter Nutzung aller dafür brauchbaren Mittel aus der Literatur.“[13]
Birgit Emich weist außerdem auf den Analyseaspekt hin: „Eine gute Fragestellung lässt sich nicht deskriptiv, also nicht mit einer Beschreibung oder Aufzählung beantworten. Eine gute Fragestellung zwingt zum Argumentieren!“[14] Eine Fragestellung braucht übrigens nicht automatisch ein Fragezeichen (auch wenn es manchmal hilft, die Frage ausdrücklich als Frage zu formulieren) – gemeint ist weniger eine grammatische Frage als vielmehr eine leitende Problemstellung, ein „Erkenntnisinteresse“. Die möglichen Frage(n), die sich daraus ergeben, lassen sich vielfach rhetorisch geschickter als indirekte Fragen formulieren.
Wie lässt sich die Fragestellung nun sinnvoll von den anderen Begriffen abgrenzen? Zunächst kann man festhalten: „Kein Ereignis, keine Person, keine Entwicklung als solche ist eine hinreichend präzise Fragestellung.“[15] Wenn Sie also z. B. Ihre Hausarbeit mit „Die Französische Revolution“ betiteln möchten, dann ist das möglicherweise das (Ober-)Thema oder der übergeordnete Kontext Ihrer Arbeit, aber keine Fragestellung.
Wenn Sie Schwierigkeiten haben, eine gute und geeignete Fragestellung zu finden, kann es helfen, den Blick umzudrehen: Was wollen Sie nicht wissen? Wenn Sie sich mit dem Ausbruch der Französischen Revolution beschäftigen möchten, könnten Sie zum Beispiel formulieren, dass es Ihnen nicht darum geht, die wirtschaftliche und finanzpolitische Lage des französischen Staates vor 1789 zu analysieren – das wiederum führt Sie vielleicht zu einer Fragestellung, die eher sozialgeschichtlich oder kulturgeschichtlich ausgerichtet ist.
Wichtig ist es außerdem zu prüfen, in welcher Hinsicht Sie die Fragestellung sinnvoll eingrenzen können – geographisch, zeitlich, nach Personengruppen, bezogen auf einen methodischen Zugang, zugespitzt auf konkrete Fallbeispiele usw. – dies alles kann Sie bei der Fokussierung weiterführen. Aus der oben zitierten Aussage von Emich folgte bereits ein klarer Bezug zur bereits existierenden Forschung, diesen formuliert sie in der folgenden Passage noch deutlicher aus:
„Bei der Suche nach einer guten Fragestellung kann Ihnen die Fachliteratur oft helfen: Achten Sie auf Thesen und Kontroversen, auf umstrittene Einschätzungen und offene Fragen. Lassen Sie sich von solchen Debatten inspirieren, stellen Sie in der Hausarbeit Thesen auf, die Sie belegen oder widerlegen, aber auf jeden Fall kritisch diskutieren.“[16]
Arbeiten Sie sich also an in der Forschung thematisierten Problemen oder aber von Ihnen beobachteten Forschungslücken oder Widersprüchen entlang: Ist für ein bestimmtes Thema die Quelle XY bereits berücksichtigt worden? Fordert ein*e Autor*in in einem Text einen neuen Ansatz zur Betrachtung einer These ein? Gibt es eine Begriffsdefinition, die auf ein Fallbeispiel, das Ihnen bekannt ist, einfach nicht recht passt? Könnte man eine Quelle mit einer Methode untersuchen, die dafür noch nicht verwendet wurde? Bingo!
These(n)
Das passende Gegenstück zur Fragestellung – und häufig auch das Ergebnis Ihrer wissenschaftlichen Arbeiten – ist die These. Eine These ist nämlich eine begründete wissenschaftliche Aussage oder Annahme. Sie können in Ihrer Hausarbeit eine oder mehrere Thesen als Ergebnis der Analyse entwickeln. In der Geschichtswissenschaft wird übrigens meistens nicht von einer „Hypothese“ gesprochen.[17] Die These(n) müssen nicht eine direkte und vollumfassende Beantwortung der Fragestellung darstellen (können sie häufig auch gar nicht), sollten aber in einem engen Bezug zu der von Ihnen verfolgten Frage stehen. Gerade in kurzen Hausarbeiten zu Beginn Ihres Studiums werden die Thesen nicht so weitreichend ausfallen können, wie Sie es sich vielleicht vor der Bearbeitung wünschen, aber gerade eine kleinschrittige, durchdachte These, die überzeugend an untersuchten Fallbeispielen hergeleitet werden kann, ist ein sehr gutes Ergebnis einer schriftlichen Hausarbeit. Statt allzu schnell Ihre Untersuchungsergebnisse zu verabsolutieren oder zu verallgemeinern, sollten Sie stets auf die Komplexität historischer Situationen verweisen – fast immer ist es sinnvoll, ein Bündel von sich überlagernden Faktoren zu unterstellen, die bei Ihrem Untersuchungsgegenstand in der Vergangenheit gleichzeitig eine Rolle gespielt haben. Einfache Antworten finden sich in der historischen Arbeit selten!
Es ist in der Geschichtswissenschaft durchaus umstritten (gerade zwischen didaktischen und nichtdidaktischen Fachbereichen), wie explizit der Bezug Ihrer Untersuchung zur heutigen Gegenwart ausfallen soll – dieser Punkt wird in den Diskussionen in Ihren Seminarsitzungen immer wieder eine Rolle spielen. Thorsten Beigel und Georg Eckert jedenfalls warnen vor der
„Versuchung eines Richteramtes, das Gestalten oder Geschehnisse aus der Vergangenheit für gut oder schlecht, für fortschrittlich oder rückschrittlich befinden zu müssen meint. Jede Gegenwart urteilt über die Vergangenheit und vor allem über deren angebliche Moral oder Unmoral. Aber daraus kann kein wissenschaftlicher Beruf entstehen; Wissenschaft ist kein Weltgericht. […] Historisch Arbeiten heißt Beschreiben, nicht Bewerten.“[18]
Man kann hier aber durchaus unterschiedlicher Ansicht sein und diese Frage hat die Geschichtswissenschaft schon von Beginn an kontrovers beschäftigt. Fragen Sie im Zweifel bei Ihren Seminarleiter*innen nach und thematisieren Sie diesen Aspekt offen in Ihren Lehrveranstaltungen!
Sehr sinnvoll und für Ihre Leser*innen besonders überzeugend ist es, wenn Sie Ihre These(n) auch gegen mögliche Einwände verteidigen, denn wie bereits gesagt ist Wissenschaft immer auch die argumentative Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Annahmen und Interpretationen.
Forschungsstand
Sie können in Ihren Arbeiten nicht darauf abzielen, die Grundfesten des Faches mit neuen Erkenntnissen zu erschüttern und die gesamte Forschung zu Ihrem Thema zu revidieren (und das wird natürlich auch nicht von Ihnen erwartet!). Umso wichtiger ist es, hier zu betonen, dass ein Bezug zur existierenden Forschung in Ihrer Arbeit absolut essentiell ist: Eine Hausarbeit, die nicht in irgendeiner Form bestehende Arbeiten anderer Forscher*innen berücksichtigt, ist praktisch unvorstellbar. Stattdessen ist das genaue Gegenteil gefordert: Sie sollen sich ausgiebig mit den bestehenden Meinungen und Darstellungen anderer Historiker*innen (oder Vertreter*innen anderer Disziplinen) auseinandersetzen. Gerade zu Beginn des Studiums ist das manchmal ernüchternd – es ist aber in der Forschung ganz alltäglich und wichtig: Vielleicht kennen Sie das Bild von den Zwergen auf den Schultern von Riesen – das ist die Position aller Forschenden, und die „Riesen“ sind die bereits vorliegenden Erkenntnisse und Begriffe der Forschung, auf die Sie sich beziehen – egal, ob zustimmend oder kritisch. Um sich in den Forschungsstand zu einem Thema einzuarbeiten, müssen Sie sich die Materialien ansehen, in denen geschichtswissenschaftliche Thesen und Forschungsergebnisse zu Ihrem Thema diskutiert werden. Wo sind relevante Thesen zum Gegenstand vorgetragen worden? Wie hat die Fachwelt darauf reagiert? Gibt es Positionen, die einander widersprechen – und wie werden sie argumentiert? In welchen Publikationen gab es wichtige Einschnitte und Innovationen in der Forschungsgeschichte meines Gegenstands?
Diese Ausführungen machen deutlich, wie wichtig die Literaturrecherche für Ihre Arbeit ist! In Ihren Lehrveranstaltungen wird man Ihnen immer wieder Hinweise darauf geben, wie Sie effektiv und gewinnbringend recherchieren und sich einen Überblick über bereits erforschte Themen verschaffen. Auch wenn viel Literatur erfreulicherweise online zu finden ist, ist es auch wichtig, dass Sie die vor Ort vorhandenen Fachbibliotheken (in der Neueren Geschichte natürlich die Bibliothek für Mittlere und Neuere Geschichte im 3. OG des Philosophikums) kennenlernen und als Arbeitsorte nutzen. Ältere Literatur ist in der Wissenschaft keineswegs automatisch veraltet. Auch wenn selbstverständlich die jeweiligen politischen oder kulturellen Entstehungskontexte (zum Beispiel bei Forschung am Vorabend des Ersten Weltkriegs zu Beginn des 20. Jahrhunderts) zu berücksichtigen sind, finden sich in alter Forschung häufig wichtige Überlegungen und Verweise auf (Quellen-)Materialien, die aufgegriffen und genutzt werden können. Historische Fragestellungen und Perspektiven verändern sich immer wieder, gerade deshalb ist es wichtig, auch ältere vorliegende Stellungnahmen aufzugreifen – und sei es, um sich kritisch von ihnen abzugrenzen.
Besonders hilfreich sind dabei Rezensionen (z. B. in Online-Fachportalen), Einleitungen von publizierten Qualifikationsschriften (wie z. B. Dissertationen), ausgewiesene Literaturberichte sowie wissenschaftliche Aufsätze, in denen sehr häufig ein problemorientierter Blick auf die Forschung geworfen wird.
"Sie sollten übrigens die Forschungsergebnisse und Thesen anderer Autor*innen in der Geschichtswissenschaft nicht immer nur in Fußnoten belegen, sondern an manchen Stellen ausdrücklich im Text benennen (Beispiel: „Müller bekräftigt in seinem Text die Bedeutung des Zeitungsartikels XY für die Interpretation der politischen Lage: [Hier wäre ein Zitat sehr passend].“).
Der Tatsache, dass alle Deutungsvorschläge des Vergangenen standortgebunden sind, tragen Sie mit dieser Vorgehensweise besonders Rechnung. Deshalb ist ein explizites Einbeziehen der Urheber*innen einer geschichtswissenschaftlichen These ein Zeichen von reflektierter Positionierung innerhalb der Forschungsdiskussion und belegt Ihre Fähigkeit die Inhalte, die Sie wiedergeben, mit einer gewissen kritischen Distanz zu betrachten (weil Sie nicht einfach alle Informationen und Deutungen als unumstößlich darstellen und in Ihre eigene Darstellung übernehmen). Sie müssen das selbstverständlich nicht in allen Passagen Ihrer Arbeit tun – wenn Sie zum Beispiel einen historischen Ereigniszusammenhang als Kontextinformation für Ihre Arbeit erwähnen möchten, dann kann es völlig ausreichend sein, in einer Fußnote die Herkunft der Information zu belegen. Spätestens dann aber, wenn es um die Deutung von historischen Sachverhalten geht, ist es in jedem Falle eine empfehlenswerte Vorgehensweise, die Urheber*innen der Gedanken auch explizit im Text zu erwähnen, anstatt sie lediglich durch die Fußnoten nachzuweisen. Der akademische Titel wird dabei übrigens weggelassen und die Autor*innen einfach mit (Vor- und) Nachnamen benannt – Sie arbeiten mit ihnen im Text auf Augenhöhe.
Zwischenfazit: Fragestellung geschichtswissenschaftlicher Arbeiten
Das Fazit des bisher Gesagten kann also lauten: Geschichtswissenschaftliche Untersuchungen und ihre Ergebnisse erfordern ein komplexes und abwägendes Problemverständnis – und ein ausgeprägtes Bewusstsein der eigenen Perspektivität. Es liegt gewissermaßen in der DNA unseres Faches: Unser Gegenstand ist nun einmal immer schon vergangen und kann deshalb nicht mehr unmittelbar beobachtet werden. Deshalb muss man besonders vorsichtig vorgehen und argumentieren. Neben der Gründlichkeit und Genauigkeit im Umgang mit analysierten Materialien kann man das als eine besondere Fähigkeit von Historiker*innen ansehen. Es ist hier nicht möglich, angemessen auf den aktuellen Stand der dahinterstehenden geschichtstheoretischen Diskussion einzugehen – es gibt aber eine ganze Reihe von sehr gut lesbaren Überblicken zu diesen grundlegenden Fragen unseres Fachs.[19]
[1] Jordan, Stefan, Einführung in das Geschichtsstudium, Stuttgart 22021, S. 171.
[2] Vgl. Beigel/Eckert, Historisch Arbeiten, S. 61: „These meint einen umsichtigen Deutungsvorschlag über historische Ereignisse oder Entwicklungen – aufbereitet für die Diskussion mit anderen.“
[3] Ebd., S. 193. Im Original sind die Passagen in fett hervorgehoben.
[4] Vgl. Neumann, Schreiben im Geschichtsstudium, S. 15–26, wo der Status von Hausarbeiten als wissenschaftliche Untersuchungen ausführlich und differenziert durchgegangen wird.
[5] Vgl. dazu Budde, Gunilla / Freist, Dagmar, Verfahren, Methoden, Praktiken, in: Dies. / Günther-Arndt, Hilke (Hrsg.), Geschichte. Studium – Wissenschaft – Beruf, Berlin 2008, S. 158–177, S. 160f. Vgl. außerdem Emich, Frühe Neuzeit studieren, S. 38–42.
[6] Ebd., S. 160.
[7] Ebd., S. 161.
[8] Jordan, Einführung in das Geschichtsstudium, S. 68.
[9] Haas, Stefan, Geschichtswissenschaft. Eine Einführung, Stuttgart 2023, S. 248.
[10] Vgl. dazu Neumann, Schreiben im Geschichtsstudium, S. 18–20 u. 24–26.
[11] Vgl. ausführlicher dazu ebd., S. 32f.
[12] Emich, Frühe Neuzeit studieren, S. 315.
[13] Beigel/Eckert, Historisch Arbeiten, S. 106.
[14] Emich, Frühe Neuzeit studieren, S. 315.
[15] Beigel/Eckert, Historisch Arbeiten, S. 106, vgl. allg. dazu ebd., S. 105f.
[16] Ebd., S. 316.
[17] Mit „Hypothese“ ist, sehr häufig in quantitativen Untersuchungen, eine vorläufige Annahme gemeint, die durch die Ergebnisse der Untersuchung daraufhin bestätigt oder widerlegt wird. So wird zum Beispiel regelmäßig in quantitativen Forschungsansätzen die Wirkung einer bestimmten Variable X auf einen Zusammenhang Y untersucht und zunächst eine Hypothese aufgestellt. Solche Hypothesentests werden in den Naturwissenschaften, den Humanwissenschaften oder auch in den Sozialwissenschaften angewandt. In der Wissenschaftskultur der Geisteswissenschaften sind solche Untersuchungen seltener, auch wenn es z. B. im Bereich der Sozialgeschichte durchaus vorkommen kann.
[18] Beigel/Eckert, Historisch Arbeiten, S. 12f.
[19] Vgl. als Literaturtipps zum Einlesen: Kocka, Jürgen, Geschichte als Wissenschaft, in: Budde, Gunilla / Freist, Dagmar / Günther-Arndt, Hilke (Hrsg.), Geschichte. Studium – Wissenschaft – Beruf, Berlin 2008, S. 12–31; Kolmer, Lothar, Geschichtstheorien, Paderborn 2008; Emich, Frühe Neuzeit studieren, hier bes. S. 21–132; Jordan, Stefan, Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft, Paderborn 52021; Welskopp, Thomas, Historische Erkenntnis, Budde, Gunilla / Freist, Dagmar / Günther-Arndt, Hilke (Hrsg.), Geschichte. Studium – Wissenschaft – Beruf, Berlin 2008, S. 122–137; Welskopp, Thomas, Theorien in der Geschichtswissenschaft, in: Budde, Gunilla / Freist, Dagmar / Günther-Arndt, Hilke (Hrsg.), Geschichte. Studium – Wissenschaft – Beruf, Berlin 2008, S. 138–157; Budde / Freist, Verfahren, Methoden, Praktiken; Freist, Dagmar, Geschichte der Geschichtsschreibung, in: Dies. / Budde, Gunilla / Günther-Arndt, Hilke (Hrsg.), Geschichte. Studium – Wissenschaft – Beruf, Berlin 2008, S. 178–197; Eibach, Joachim / Lottes, Günther (Hrsg.), Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, Stuttgart 22011.