Tobias Kohen (1652-1729) – der erste jüdische Student in Deutschland
Tobias Kohen als jüdischer Student in Deutschland
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Tobias Kohen hatte nach seiner eigenen Beschreibung den Wunsch, in Padua seine medizinische Ausbildung zu absolvieren, also an der renommiertesten Hochschule überhaupt. <footnote data-id="fn1" data-anchor="anmerkung1">[1]</footnote> Zuvor bewarb er sich jedoch mit einem Freund um einen Studienplatz in Frankfurt an der Oder. Dabei wandte er sich direkt an den Kurfürsten Friedrich Wilhelm, dem er ein zweisprachiges Lobgedicht sandte. <footnote data-id="fn2" data-anchor="anmerkung2">[2]</footnote> Dieses bestand aus einer hebräischen und einer lateinischen Fassung, wobei der lateinische Text eine freie Übersetzung des Hebräischen darstellt. Insgesamt ist das Gedicht alles andere als herausragend, es besteht vor allem aus biblischen Versatzstücken, die in Bezug zur Person des Kurfürsten gesetzt werden. Dabei bilden die Anfangsbuchstaben einer jeden Zeile zusammen den Namen Kurfürsten. Der Lobesbrief hatte Erfolg: die beiden wurde dort ein kurfürstliches Stipendium in Aussicht gestellt, das sie gerne für sich in Anspruch nahmen.
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Die Studiengenehmigung verbunden mit der Bewilligung eines Stipendiums wurde vom brandenburgischen Kurfürsten Friedrich Wilhelm (1620-1688) in einer Kabinettsorder vom 29. April 1678 erteilt. <footnote data-id="fn3" data-anchor="anmerkung3">[3]</footnote> Darin wird den beiden Juden die Aufnahme an die Universität gestattet, allerdings mit bestimmten Auflagen: sie müssen die deutsche Sprache erlernen und sich als Hebräischlehrer zur Verfügung stellen. Verbunden war dieses Privileg mit einem Stipendium von zwanzig Talern. Es wird in dem Privileg davon ausgegangen, dass die beiden Studierenden bereits zuvor mit ihrer Ausbildung begonnen haben, was durchaus nicht unwahrscheinlich ist, denn die medizinischen Grundbegriffe dürfte Tobias Kohen bereits in Polen erlernt haben.
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Zudem gehören zu den Bedingungen die Aufforderung, die deutsche Sprache zu erlernen, also eine bessere Eingliederung in die Gesellschaft zu erlangen, und auch die Verpflichtung, wenn gewünscht, Hebräisch-Unterricht zu erteilen. Damit käme der Kurfürst der theologischen Fakultät entgegen, die sich zu diesem Zeitpunkt stark mit hebräischer Philologie beschäftigte, einerseits, um den hebräischen Text des Alten Testaments besser zu verstehen, was aus dem protestantischen Bedürfnis einer Rückkehr zu den Quellen, die bereits Luther in Angriff genommen hatte, resultierte, zum anderen aber auch auf den Wunsch der Fakultät, die Schriften der jüdischen Gemeinden zu kontrollieren und auch zu zensieren, verweist. <footnote data-id="fn4" data-anchor="anmerkung4">[4]</footnote>
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Als Gegenleistung sollen die beiden Juden den anderen Studenten völlig gleichgestellt sein und keine Nachteile im Verlaufe des Studiums erfahren. Von Seiten der Hochschule wurden allerdings in einem Schreiben vom 10. Juni 1678 dahingehend Bedenken geäußert, dass Juden schwächere Christen oder solche, die selber zum Christentum übergetreten waren, zum Abfall motivieren könnten. <footnote data-id="fn5" data-anchor="anmerkung5">[5]</footnote> Es kann sich natürlich nicht um Vorkommnisse unter Studierenden handeln, da es eben noch keine jüdischen Studenten gegeben hat. <footnote data-id="fn6" data-anchor="anmerkung6">[6]</footnote> Es geht offenbar eher um eine theoretische Angst.
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Der Kurfürst brachte durchaus Verständnis für die Bedenken der Universität auf, wollte aber trotzdem seinen Willen durchsetzen. <footnote data-id="fn7" data-anchor="anmerkung7">[7]</footnote> Zugleich machte er klar, dass er keine aktive Bekehrung der jüdischen Studenten wünschte, sondern lediglich die Möglichkeit einer Konversion aus freien Stücken in Betracht zog. Zugleich soll jede Möglichkeit des Judaisierens unterbunden werden. Aus dieser Haltung kann man fragen, ob sich der Kurfürst überhaupt für die religiösen Implikationen interessiert hat, oder ob es ihn um rein weltliche Aspekte ging. Tatsächlich schreibt Tobias Kohen darüber, dass sie von den Gelehrten der Universität Frankfurt an der Oder sehr positiv aufgenommen worden seien. Allerdings verlief der Austausch mit den Kommilitonen und Lehrenden nicht immer reibungslos:
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"In Wahrheit taten uns die gelehrten Herren der Universität große Ehre an. Tagtäglich disputierten sie mit uns in Glaubenssachen mit Scharfsinn und großer Ausführlichkeit nach ihrer Gepflogenheit. Manchmal beschämten sie uns, indem sie sagten: 'Wo ist denn eure Weisheit? Eure Einsicht ist längst von euch genommen und uns gegeben, denn keiner unter euch weiß, wie lange noch. Unter euch ist keine Kenntnis der Wissenschaft. Hieran könnt ihr deutlich erkennen, dass Gott nicht in eurer Mitte weilt, darum ist eure Weisheit zugrunde gegangen und versunken.' Hiermit kränkten sie uns Tag für Tag. Wir wurden mehr an Schmähungen als an Ehre satt. Wäre nicht die Gnade Gottes und seine Hilfe, so hätten wir das Haupt nicht erheben und ihnen antworten können, denn wir waren an derlei Disputationen nicht gewöhnt, wenn wir auch, Gott sei dank, der heiligen Schrift, des Talmud und des Midrasch kundig waren, dennoch – im Disputieren mit ihnen waren wir arm." <footnote data-id="fn8" data-anchor="anmerkung8">[8]</footnote>
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Dass die beiden jüdischen Studenten zum Objekt von Bekehrungsversuchen wurden, war nicht weiter verwunderlich, denn schließlich konnte sich ein modus vivendi noch nicht etabliert haben, da man keine Erfahrungswerte an der Universität bezüglich nichtchristlicher Studenten besaß. Dabei erwies sich in der Praxis die kurfürstliche Order, dass die jüdischen Studenten den christlichen gleichgestellt zu sein hatten, als nicht allzu wirkungsvoll, denn gerade der theologische Impetus von Studenten und Lehrenden musste zu den Versuchen führen, Juden der christlichen Religion zuzuführen. Dieser Drang ließ allerdings im Laufe der Zeit nach, so dass die folgenden Studenten jüdischen Glaubens keine Bekehrungsversuche mehr erwähnten.
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Zugleich mussten sie erkennen, dass sie ihre traditionelle Erziehung nicht auf die Art der Diskussionen und Debatten an der Universität vorbereitet hatte, so dass sie bei solchen Gelegenheiten des Öfteren unterlegen waren. Allerdings hatte Frankfurt, obwohl ein Vorreiter in der Zulassung jüdischer Studenten, einen entscheidenden Makel: es war ihnen nicht möglich, dort zu promovieren. <footnote data-id="fn9" data-anchor="anmerkung9">[9]</footnote> Deswegen war die deutsche Universität auch nicht die erste Wahl gewesen, sondern Padua, der alten Tradition gemäß. Hierhin zogen Tobias Kohen und Gabriel nach einer gewissen Studienzeit, um schließlich 1683 promoviert zu werden.
Anmerkungen
<footnote data-id="anmerkung1" data-anchor="fn1">[1]</footnote> Vgl. Kohen, Ma’asseh Tuviyyah. Bd. 1, Venedig 1707, Bl. 5a.
<footnote data-id="anmerkung2" data-anchor="fn2">[2]</footnote> Ein Abdruck dieses Lobgedicht findet sich in Lewin, Anhang (ohne Seitenzahlen). Vgl. auch Monika Richarz, Der Eintritt der Juden in die akademischen Berufe, Diss. Tübingen 1972 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts 28), S. 33 f.
<footnote data-id="anmerkung3" data-anchor="fn3">[3]</footnote> Hier zitiert nach Richarz, Eintritt, S. 223.
<footnote data-id="anmerkung4" data-anchor="fn4">[4]</footnote> Vgl. Richarz, Eintritt, S. 15 f.
<footnote data-id="anmerkung5" data-anchor="fn5">[5]</footnote> Abgedruckt bei Louis Lewin, Die jüdischen Studenten an der Universität Frankfurt an der Oder, in: Jahrbuch der jüdisch-literarischen Gesellschaft 14 (1921), S. 231 f. Vgl. auch Richarz, Eintritt, S. 34.
<footnote data-id="anmerkung6" data-anchor="fn6">[6]</footnote> Eine überzeugende Argumentation für die Annahme, dass Tobias Kohen und sein Freund tatsächlich die ersten jüdischen Studenten waren, liefert Lewin, Studenten, S. 222-226.
<footnote data-id="anmerkung7" data-anchor="fn7">[7]</footnote> Die Antwort des Kurfürsten ist ebenfalls abgedruckt bei Lewin, Studenten, S. 232. Vgl. auch Richarz, Eintritt, S. 34.
<footnote data-id="anmerkung8" data-anchor="fn8">[8]</footnote> Tobias Kohen, Ma’asseh Tuviyyah. Bd. 1, Venedig 1707, Bl. 5b.
<footnote data-id="anmerkung9" data-anchor="fn9">[9]</footnote> Vgl. Lewin, Studenten, S. 232 und Richarz, Eintritt, S. 35.