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Die „akademische Ausländerfrage“ in Deutschland in der Wahrnehmung russländischer Studenten

Konfliktmanagement im Zuge der „akademischen Ausländerfrage“

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Zu einer erneuten Eskalation der „akademischen Ausländerfrage“ – nachdem von 1905 bis 1912 an einigen technischen Hochschulen bereits Einschränkungen vorgenommen worden waren – kam es im Dezember 1912 nach dem sogenannten „Klinikerstreik“ <footnote data-anchor="anmerkung1" data-id="fn1">[1]</footnote> in Halle. Sowohl in den zuständigen Ministerien, als auch an den Hochschulen wurde über das Maß und die Zweckmäßigkeit neuer Regelungen diskutiert, die den Zustrom gerade russländischer Studenten nach Deutschland begrenzen sollten. <footnote data-anchor="anmerkung2" data-id="fn2">[2]</footnote> Diese erneute Verschärfung der Situation zwang auch russische studentische Kolonien in Deutschland, sich der Frage ernsthaft anzunehmen. Vom Zentralen Informationsbüro des Karlsruher Kongresses russischer Studenten wurden gezielt Fragebögen an verschiedene deutsche Universitäten und technische Hochschulen geschickt, um das Ausmaß der geplanten Einschränkungen in den Zulassungsbestimmungen zu klären. Die Ergebnisse wurden in der Zeitung „Studenčeskij Listok“ (Das Studentenblatt) gedruckt, die als Organ des Kongresses herausgegeben wurde. Dabei konstatierte die Zeitung, dass die entsprechenden Beschlüsse zwar sehr allgemein formuliert worden seien, in der Realität jedoch nicht alle Ausländer an deutschen Hochschulen, sondern nur die russländischen Studenten betroffen seien. Als Konsequenz wurde versucht, den Strom eigener Landsleute in andere europäische Länder zu lenken, um die „Ausländerfrage“ nicht noch mehr zu verschärfen: „Dies gelang jedoch nur bedingt, da die russische Studentenschaft, bereits der ihnen geläufigen deutschen Sprache folgend, die schweizerischen Universitäten strömte.“ <footnote data-anchor="anmerkung3" data-id="fn3">[3]</footnote>

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Eine Reaktion auf die „Ausländerfrage“ waren auch die Kongresse russländischer Studenten 1913 in Karlsruhe und 1914 in Bern. Diese verfolgten das Ziel, sowohl die allgemeine Situation russländischer Studenten in Deutschland zu diskutieren, als auch in der sich zuspitzenden „akademischen Ausländerfrage“ Stellung zu beziehen sowie Ursachen und mögliche Lösungen zu finden. Von einer gemeinsamen Strategie aller russländischer Studenten konnte aber dennoch kaum die Rede sein. „Studenčeskij Listok“ verkündete zwar, dass alle russländischen Studenten unabhängig von ihrer Nationalität und Glaubensrichtung von nun an mehr zusammenhalten sollten, da ihre Zahl an deutschen Hochschulen in der nahen Zukunft stark sinken würde und sie moralisch und materiell noch mehr gegenseitige Hilfe benötigen würden als bisher. <footnote data-anchor="anmerkung4" data-id="fn4">[4]</footnote> Jedoch boykottierten die Vereine jüdischer Studenten aus Russland nicht nur die Kongresse, sie hielten den Aufruf, einen allgemeinen Verein aller Studenten aus dem Russischen Reich zu gründen, schlicht für einen Russifizierungsversuch. <footnote data-anchor="anmerkung5" data-id="fn5">[5]</footnote> Das gezielte Wirken deutscher studentischer Organisationen und Burschenschaften, die sowohl die Presse, als auch den öffentlichen Raum für ihre Propaganda nutzten, sowie die Ausländerfeindlichkeit im deutschen akademischen Milieu, interpretierten sie als rein antisemitisch. So wurden auch die Proteste gegen die russländischen Studenten, die in München beispielsweise „bedrohliches Ausmaß“ erreichten, als „zweifellos antisemitisch“ bezeichnet. <footnote data-anchor="anmerkung6" data-id="fn6">[6]</footnote> Diese Meinung teilte die übrige russländische Studentenschaft freilich nicht: „Es gibt hier Russen, die behaupten, dass die feindliche Strömung unter den deutschen Studenten eine antisemitische sei und sich allein gegen die Juden, die ‚sogenannten Russen‘ wendet“. <footnote data-anchor="anmerkung7" data-id="fn7">[7]</footnote> In der Tat würde dies der Wahrheit nicht entsprechen und betreffe nicht nur Juden, sondern auch Russen im Allgemeinen. Dass die jüdischen Studenten diese Frage ausschließlich aus dem nationalen Gesichtspunkt betrachteten und auf einer eigener Versammlung in Zürich beschlossen, ein Zentralbüro und eine Hilfskasse zu gründen, womit sie die übrigen betroffenen Studenten ausschlossen, wurde von letzteren als kurzsichtig bewertet. <footnote data-anchor="anmerkung8" data-id="fn8">[8]</footnote>

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Zusätzlicher Zündstoff, der dem Thema neben dem akademischen eine politische Dimension verlieh, waren die revolutionären Strömungen unter den russländischen Studenten. Von dieser Gruppe distanzierten sich aber sowohl die restliche russländische Studentenschaft, als auch die russische Politik nachdrücklich. In einem in der Zeitung „Studenčeskij Informacionnyj Listok“ (Studentisches Informationsblatt) abgedruckten Brief an die Rektoren deutscher Universitäten wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass russische Studenten aus keinem anderen Grund, als eine wissenschaftliche Ausbildung zu bekommen, nach Deutschland kommen würden. <footnote data-anchor="anmerkung9" data-id="fn9">[9]</footnote> Diese Ansicht verteidigte energisch auch der russische Konsul in Leipzig, wobei dieser eine nationale Unterscheidung in den Vordergrund stellte. Im Zusammenhang mit den geplanten verschärften Maßnahmen gegenüber dem Russisch Akademischen Verein zu Leipzig betonte er, dass die extremen Elemente unter den sich in Leipzig zu Studienzwecken aufhaltenden russischen Untertanen durchaus nicht die Mehrzahl bilden würden, sondern im Gegenteil, eine verhältnismäßig kleine Gruppe von hauptsächlich jüdischen und armenischen Studenten darstellte, welche durch ihr Gebaren die ganze übrige russische Studentenschaft von Leipzig diskreditieren würde. <footnote data-anchor="anmerkung10" data-id="fn10">[10]</footnote> Dabei ist bemerkenswert, dass beispielsweise die armenischen Vereine ihrerseits eigene Kommilitonen mahnten, sich gerade von den „Unruhe stiftenden“ Russen fernzuhalten, um nicht selbst Opfer jener Ablehnung zu werden, die in der deutschen Gesellschaft gegenüber den russischen Studenten herrschte. <footnote data-anchor="anmerkung11" data-id="fn11">[11]</footnote> Auch die offiziöse russische Presse distanzierte sich von den „revolutionären Elementen“ an den ausländischen Universitäten deutlich und erklärte jegliches Interesse an diesen Studenten seitens der russischen Politik wie Öffentlichkeit für überflüssig. Nicht zu übersehen war dabei die deutlich dominierende antisemitische Haltung.

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Die „akademische Ausländerfrage“, die sich auf den ersten Blick gegen die „Russen“ insgesamt richtete, war durchaus ein vielschichtiges Problem, wobei die verschiedenen Akteure diese Frage jeweils aus der eigenen Perspektive betrachteten. Dies galt insbesondere für die Vertreter verschiedener nationaler und religiöser Minderheiten des Zarenreiches, die neben den Problemen im Ausland auch Diskriminierung in der Heimat beklagten. Dass das Studium im Ausland gerade für diese Untertanen des Russischen Reiches zu einem großen Dilemma wurde, ist in den wissenschaftlichen Untersuchungen über die „akademische Ausländerfrage“ kaum berücksichtigt. Dabei stellen solche Fragen wie etwa die Wahrnehmung verschiedener Gruppen russischer Untertanen in Deutschland, ihre aus der Auslandserfahrung resultierte Rückanpassung an heimische Realitäten, die Berührungen mit der europäischen Kultur und Wissenschaft und die Veränderung ihrer Weltsicht unter diesem Einfluss, aber auch die deutliche Zurückhaltung, die sie seitens der russischen Behörden nach der Rückkehr erfuhren, überaus interessante Forschungsfragen dar, die sicher noch ausführlich behandelt werden sollten.

 

Anmerkungen

<footnote data-anchor="fn1" data-id="anmerkung1">[1]</footnote> Ausführlicher zum Streik der deutschen Medizinstudenten gegen den Besuch russländischer Studenten der klinischen Semester siehe: Klotzsche, Mario: Die „akademische Ausländerfrage“ in den Hochschulen. Ein Beitrag zur Untersuchung des öffentlichen Diskurses über Fremde an deutschen Hochschulen vor dem 1. Weltkrieg. Ebenda, S. 195-121, hier S. 209.

<footnote data-anchor="fn2" data-id="anmerkung2">[2]</footnote> Vgl. Peter, Hartmut Rüdiger: Politik und akademisches Ausländerstudium 1905-1913. Preußisches Beispiel und sächsisch-badische Variationen. In: Hartmut Rüdiger Peter / Natalia Tickohov (Hrsg): Universitäten als Brücken in Europa. Les universités: des ponts à trevers l’Europe. Studien zur Geschichte der studentischen Migration. Etudes sur l’histoire des migrations étudiantes. Frankfurt a. M. 2003, S. 175-194.

<footnote data-anchor="fn3" data-id="anmerkung3">[3]</footnote> Studenčeskij Listok, Nr. 3-4, 10.11.1913.

<footnote data-anchor="fn4" data-id="anmerkung4">[4]</footnote> Ebenda.

<footnote data-anchor="fn5" data-id="anmerkung5">[5]</footnote> Vgl. Weil, Claudie: Russisch-jüdische Studentenvereine in Deutschland 1900-1914. In: Peter / Tikhonov (Hrsg.): Universitäten als Brücken. S. 229-239, hier 238.

<footnote data-anchor="fn6" data-id="anmerkung6">[6]</footnote> Studenčeskij Informacionnyj Listok, 1, 28.1.1913.

<footnote data-anchor="fn7" data-id="anmerkung7">[7]</footnote> Ebenda.

<footnote data-anchor="fn8" data-id="anmerkung8">[8]</footnote> Zagraničnye otkliki, 15, 13.4.1913.

<footnote data-anchor="fn9" data-id="anmerkung9">[9]</footnote> Studenčeskij Informacionnyj Listok, 1, 28.1.1913.

<footnote data-anchor="fn10" data-id="anmerkung10">[10]</footnote> Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GstA), Rep. 77, St. 18, Nr. 265.

<footnote data-anchor="fn11" data-id="anmerkung11">[11]</footnote> Krtakan gort’e [Die Bildungsfrage]. In: Usanoł [Der Student] 3, 1909. S. 102-108, hier 106.

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