Textkritik: Von der handschriftlichen Überlieferung zur kritischen Edition
Um vom handschriftlich überlieferten Text zur kritischen Edition zu gelangen, ist ein Arbeitsschritt notwendig, der als Textkritik bezeichnet wird. Die Erstellung von Editionen obliegt dabei üblicherweise erfahrenen Historikerinnen und Historikern. Dennoch ist es auch für Anfänger/innen unerlässlich, Kenntnisse über die Entstehung von kritischen Editionen zu besitzen.
Der Weg zur kritischen Edition vollzieht sich in vier Etappen und ist in seiner Anlage maßgeblich durch die Arbeiten des Germanisten Karl Lachmann († 1851) beeinflusst:
1. Sammeln und Sichten der Überlieferungsträger
In einem ersten Schritt gilt es, die zu betrachtenden Überlieferungsträger zu sammeln und zu sichten. Dabei erfolgt eine Beschreibung der Handschriften nach ihrer Herkunft, ihrem Beschreib- und Schreibstoff, ihrem Format und Umfang, ihrer Schrift etc.
2. Kollatio
Durch das vergleichende Lesen werden Textabweichungen (= Lesarten, Varianten) zwischen den Überlieferungsträgern ermittelt. Dieses vergleichende Lesen wird „kollationieren“ genannt.
3. Recensio
Auf der Basis der Abweichungen wie auch der Gemeinsamkeiten zwischen den Überlieferungsträgern sowie mit Hilfe vieler weiterer Informationen zur Überlieferungsgeschichte werden Abhängigkeitsverhältnisse der Überlieferungsträger festgestellt. Diese Abhängigkeiten, welcher Text also auf welcher Vorlage beruht, werden graphisch durch ein Baumdiagramm (= Stemma) dargestellt, indem jeder Handschrift eine Sigle zugewiesen und eventuell eine Ursprungshandschrift (= Archetypus) angenommen wird. Mittels der so gewonnenen Daten und Erkenntnisse kann sich der Editor nun für eine Leithandschrift entscheiden, die in der Edition als Editionstext abgedruckt wird; er kann aber auch einen auf der Basis verschiedener Handschriften rekonstruierten Text edieren, der der ursprünglichen Fassung näher steht als alle erhaltenen Abschriften. Bei der Leithandschrift muss es sich nicht zwingend um die „beste“ (= dem ursprünglichen Text eines Autors am nächsten stehende) Handschrift oder älteste Überlieferung handeln. Manchmal stellt die Vollständigkeit des Überlieferungsträgers oder seine Verbreitung und Rezeption ein gewichtigeres Kriterium dar. In der neueren Editionsphilologie betrachtet man die Texte mehr in ihrer gegebenen Überlieferung, versucht also nicht zwangsläufig, einen Urtext zu (re)konstruieren, den es so möglicherweise gar nicht gegeben hat. Statt nach dieser Autorfassung zu suchen, geht man bei dieser Herangehensweise von einer dynamischen Textproduktion aus.
4. Emendatio
Zuletzt werden offensichtliche Fehler und verderbte (= nicht mehr lesbare) Stellen in der Leithandschrift getilgt und durch Verbesserungen (= Konjekturen) ersetzt, die sich in der Regel aus dem Handschriftenvergleich ergeben.
Durch die Textkritik entsteht folglich die kritische Edition, die sich durch einen charakteristischen Aufbau auszeichnet:
- Die Praefatio (= wissenschaftliche Einleitung) enthält die Editionsrichtlinien, gibt durch das abgedruckte Stemma Hinweise auf die Abhängigkeitsverhältnisse sowie die Handschriftensiglen und informiert darüber hinaus auch ausführlich über Autor und Werk.
- Der Editionstext entspricht der gewählten Leithandschrift.
- Der kritische Apparat ergänzt den Editionstext und besteht aus zwei Teilen:
- Der Variantenapparat gibt alle Abweichungen im Wortlaut der anderen Überlieferungsträger wieder und ist meist durch einen Buchstabenindex kenntlich gemacht.
- Der Sachapparat erläutert den Text und enthält Hinweise auf Vorlagen, Literaturbelege, Begriffserklärungen, Auflösungen von Datierungen, Übersetzungen von Ortsnamen u.ä. Er wird meist durch einen Ziffernindex bezeichnet.