Die W-Fragen
Wann?
Die Frage nach dem Wann scheint zunächst banal zu sein und sich mit einem Blick auf das genannte Datum leicht beantworten zu lassen. Was aber, wenn es gar keine Datumszeile gibt? Was ist mit undatierten Urkunden oder aber Fotografien, die auf der Rückseite keinen Hinweis auf die Entstehungszeit geben? Bei vielen Quellen geht es also darum, die Entstehungszeit aus dem Text bzw. dem Abgebildeten zu erschließen. Manchmal gibt auch die Überlieferung einen Anhaltspunkt für die Datierung. D.h. Sie müssen auch manchmal einen Blick in Dokumente werfen, die mit dem eigentlich analysierten in einem gemeinsamen Überlieferungskontext stehen. In Belegen wird übrigens vermerkt, wenn eine Quelle undatiert ist, die Entstehungszeit aber von Bearbeiter*innen geschätzt wird. (Es steht dann dort „o.D. ca. Datum/Jahreszahl/Zeitraum“).
Egal, ob nun ein Datum vermerkt ist oder nicht, die Frage nach dem Wann ist nicht mit der Nennung einer Jahreszahl oder eines Tages erledigt, sondern es geht darum, die Quelle im zeitlichen Kontext zu verorten, d.h. zu klären, welche zeitgenössischen Entwicklungen, Ereignisse und Gebräuche für die Interpretation von Bedeutung sind.
Wer?
Neben der Entstehungszeit ist es auch wichtig zu klären, wer den Text verfasst oder den Gegenstand produziert hat. Dabei können die relevanten Aspekte stark variieren – das hängt zum einen von Ihrer Fragestellung ab, zum anderen aber auch davon, wie viel über die Autor*innen bekannt ist. Falls das Werk anonym überliefert ist, wie beispielsweise die Quedlinburger Annalen aus dem 11. Jahrhundert, können Sie danach fragen, in welchem Umfeld der Text entstanden sein könnte – in diesem Fall dürfte es sich um Nonnen aus dem Quedlinburger Stift handeln. Bei Autor*innen, von denen nur der Name oder wenige biographische Details bekannt sind, sollten Sie diese möglichst umfassend zusammentragen. Handelt es sich dagegen um einen Autor wie beispielsweise Otto von Bismarck (1815–1898), ergibt das wenig Sinn. Hier müssen Sie auswählen, welche Informationen für die vorliegende(n) Quelle(n) und Ihre eigene Fragestellung relevant sowie für die Interpretation wichtig sind. Dabei sollten Sie vor allem zwei Aspekte beachten:[1] Erstens den Horizont der Autor*innen – was konnten sie wissen und was nicht? Zweitens das Verhältnis, in dem die Autor*innen zu den Ereignissen oder Gegebenheiten standen, über die sie berichten. Es macht einen Unterschied, ob es sich um einen Augenzeugenbericht handelt oder um Beobachtungen aus der Ferne (zeitlich und/oder räumlich), ob über Verwandte berichtet wird, über Vorgesetzte oder über Fremde. Es ist deshalb auch wichtig, die Personenkonstellationen herauszuarbeiten: In welchem Verhältnis stehen die Autor*innen zu den Personen, über die sie berichten oder von denen sie den Anstoß zum Schreiben erhalten haben? Bei der Frage nach der Autorschaft geht es also auch um das Umfeld der Autor*innen. Auch hier gilt, dass nur die Aspekte, die für Ihr Thema relevant sind, in die Darstellung einfließen sollen.
Warum?
Für die Interpretation einer Quelle ist es wichtig, die Motivationen oder Intentionen zu kennen, mit denen sie angefertigt wurde, also warum sie überhaupt entstanden ist. In manchen Texten werden Intentionen explizit genannt, wobei selbst dann weitere oder andere Motive bei der Abfassung eine Rolle gespielt haben können. Häufig lassen sich die Intentionen nur aus dem Text selbst und aus dem Kontext erschließen. Wird beispielsweise etwas verschwiegen oder werden Aussagen verfälscht? Hierzu kann man besonders auf Unterschiede zwischen verschiedenen Quellenzeugnissen achten. Werden bestimmte Personen oder Zusammenhänge besonders vorteilhaft dargestellt? Aus den Antworten zu diesen Fragen kann man oft auf Intentionen und Motivationen schließen. Auch der Kontext kann wichtig sein: Gibt es etwa einen konkreten Anlass für das Verfassen des Textes, oder lässt sich ein solcher erschließen? Man spricht hier auch vom „Sitz im Leben“ eines Textes oder von der Causa scribendi (dem Grund für das Schreiben). Das gilt für gegenständliche Quellen übrigens genauso wie für Schriftquellen. So macht es einen Unterschied, ob eine Fotografie in einer Zeitung erschienen ist, auf einem Plakat veröffentlicht wurde oder aus einer privaten Sammlung stammt. Der ursprüngliche Entstehungskontext kann sich dabei natürlich von einem späteren Verwendungskontext unterscheiden, und damit kann auch die Frage, wie die Quelle überliefert wurde (siehe dazu unter „Wie liegt die Quelle vor?“), in diesem Zusammenhang wichtig werden.
Für wen?
Um die Quelle in ihren Entstehungskontext besser einordnen zu können, ist es auch wichtig, die Frage nach dem Adressaten zu klären. Für wen wurde ein Text geschrieben oder ein Gegenstand angefertigt? Quellen haben immer Adressat*innen, dabei kann es sich um einzelne Personen, eine Gruppe oder eine breitere Öffentlichkeit handeln. Erkennen wir für wen bzw. an wen sich die Quelle richtet, so lassen sich wiederum die Intentionen der Quelle (also das Warum) und die Frage, wie sie vorliegt, besser erschließen. Handelt es sich um eine Quelle von privater Natur wie z.B ein Liebesbrief oder Tagebucheintrag oder ist die Quelle ein Dokument, das sich an die Öffentlichkeit richtet, wie eine Rede oder ein Diskussionsbeitrag im Parlament? Im zweiten Fall wird es gar nicht leicht sein, die Gruppe der Adressat*innen genau zu bestimmen. Anders als bei einem Brief ist dies weniger eindeutig, weil es sich um eine große Gruppe von Personen handelt. Redebeiträge im Parlament adressieren zum einen die Mitparlamentarier*innen, sie zielen aber je nach Zeitabschnitt auch auf die Medienvertreter*innen und die Bevölkerung. Entscheidend ist es, diese komplexe Adressat*innensituation zu diskutieren und in die Interpretation einzubeziehen.
Wie liegt die Quelle vor?
Quellen können in unterschiedlichen Versionen vorliegen und dies ist für die Interpretation mitunter wichtig zu berücksichtigen. Am besten helfen hier Beispiele weiter, um zu verdeutlichen, worum es konkret geht. Für Hausarbeiten in der Neueren Geschichte werden gerne Zeitungen als Quelle herangezogen, und das wachsende Angebot an Digitalisaten macht die Auswahl stetig größer. Die Ausgabeoptionen für einzelne Artikel sind dabei sehr unterschiedlich. Teils werden nur die Scans von einzelnen Artikeln angeboten, in anderen Fällen erhält man zusätzlich oder ausschließlich die gesamten Zeitungsseiten. Im ersten Fall fehlen wichtige Informationen z.B. zur Platzierung von Artikeln, die für den Leseeindruck der Zeitgenoss*innen jedoch relevant sind und daher beachtet werden sollten. Insgesamt ist zu bedenken, dass wir heute als Historiker*innen auf die Zeitung ganz anders zugreifen, als dies in der Zeit geschah, die wir erforschen wollen. Wir halten sie nicht in der Hand und blättern das Druckerzeugnis nicht mit den entsprechenden knisternden Lauten durch, sondern lesen meist mit Hilfe der Zoom-Funktion am Bildschirm. Bei Transkriptionen von Kirchenbüchern oder Urkunden ist es mit dem fehlenden Zugriff auf die tatsächliche Quelle ganz ähnlich.
Ein weiteres Beispiel: Es gibt Quellen, die im Audioformat sowie in schriftlicher Version vorliegen, wobei letztere die meist verbreitete ist, da geschriebene Texte in der Regel sehr viel schneller verarbeitet werden können und zudem für Belege als Referenz bevorzugt werden. So werden Oral-History-Interviews meist verschriftlicht, wobei gute Transkripte versuchen, die Audioversion möglichst umfassend zu transportieren (Redepausen, Zwischenlaute, Dialekt). Nichtsdestotrotz können Tonlagen und nichtverbale Elemente, die das gesprochene Wort ausmachen, kaum in der Schriftfassung wiedergegeben werden. Parlamentsprotokolle geben uns Auskunft, was Abgeordnete debattieren, in Ausschnitten werden auch Reaktionen wie Lachen, Klatschen und Zwischenrufe vermerkt. Fränkische oder rheinische Dialekte der Redner*innen, energische oder ruhige Tonlagen und die gesamte Geräuschkulisse im Plenarsaal lassen sich aber erst in der Audiofassung nachhören. Existiert zusätzlich noch eine Videoaufnahme, werden Mimik und Gestik der Debattierenden oder auch die Bewegungen im Raum (Verlassen von Debatten, Wegnicken oder Tuscheln) für uns greifbar.
Wie ist die Quelle gestaltet?
Die Frage nach dem Wie kann sich nicht nur auf die Überlieferung beziehen, sondern auch auf den Stil einer Quelle, der für die Interpretation ebenfalls wichtig werden kann. Dazu ein kurzes Beispiel: In einer Heiligenvita heißt es, der Protagonist sei schon als Kind sehr klug gewesen und hätte alle Altersgenossen in seiner Weisheit übertroffen. Daraus lässt sich nicht schließen, dass der Protagonist tatsächlich als Kind ein kluger Kopf war, denn die genannte Darstellung ist für eine hagiographische Vita (also die Lebensbeschreibung eines*einer Heiligen) typisch, beziehungsweise topisch, denn es handelt sich um einen Topos, genauer gesagt um den puer-senex-Topos.[2] Solche Topoi und andere rhetorische Figuren[3] können den Bedeutungsgehalt von Aussagen teils erheblich beeinflussen – und damit auch die Interpretation von Quellen. Gleichzeitig sind manche Darstellungsweisen typisch für bestimmte Gattungen. Deshalb ist es sinnvoll, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, um was für eine Art von Quelle es sich handelt. (Vgl. dazu auch den Abschnitt „Quellentypen“). Selbst wenn es keine allgemeingültige Einteilung von Quellen in Gattungen gibt (oder jemals geben kann), dürfte es einleuchten, dass Aussagen eines panegyrischen Textes (also einer Lobrede) eine andere Ausrichtung haben als die einer Invektive (also einer Schmährede) oder eines Rechtstextes.
[1] Vgl. Goetz, Hans-Werner: Proseminar Geschichte: Mittelalter. 4. Aufl., Stuttgart 2014, S. 268f.
[2] Siehe dazu Carp, Teresa C.: Puer Senex in Roman and Medieval Thought, in: Latomus 39 (1980), S. 736–739.
[3] Arend, Stefanie: Einführung in Rhetorik und Poetik, Darmstadt 2012; Arbusow, Leonid: Colores rhetorici. Eine Auswahl rhetorischer Figuren und Gemeinplätze als Hilfsmittel für akademische Übungen an mittelalterlichen Texten, 2. Aufl., hg. von Helmut Peter, Göttingen 1963.