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Zur Geschichte wissenschaftlicher Editionen

Das für Quelleneditionen konstitutive Bemühen, der Originalquelle unter Berücksichtigung aller späteren Veränderungen so nahe wie möglich zu kommen, kann auf eine lange Tradition zurückblicken. Bereits die Bibliothekare der Bibliothek von Alexandria, der wohl bedeutendsten Bibliothek der Antike, strebten systematisch danach, die Texte griechischer "Klassiker" zu erwerben und deren eigentlichen Textgehalt wiederherzustellen.

Die eigentlichen Anfänge kritischer Editionsverfahren sind allerdings eher im Humanismus zu verorten. Zwar sollte man sich davor hüten, die Sammeltätigkeit der Humanisten in anachronistischer Weise mit modernen Editionsverfahren gleichzusetzen. Es lässt sich aber immerhin konstatieren, dass sie bereits von dem Bemühen angetrieben wurden, handschriftliche Texte der "klassischen" Antike in den Bibliotheken der Stifte und Klöster aufzuspüren, zu vergleichen, gegebenenfalls zu bearbeiten und der Öffentlichkeit im Druck zur Verfügung zu stellen.

Nicht viel anders verhielt es sich noch im 17. Jahrhundert zum Beispiel mit der Sammlungs- und Editionstätigkeit des Jesuiten Jean Bolland (1595-1665) bzw. der frühen Bollandisten im Rahmen der "Acta Sanctorum" oder auch der Mauriner Jean Mabillon (1632-1707) und Thierry Ruinart (1657-1709). Auch ihre Werke weisen noch nicht die Standards heutiger wissenschaftlicher Editionen auf.

Die eigentliche Take-off-Phase moderner Quelleneditionen war das frühe 19. Jahrhundert, also das Zeitalter der Romantik, Mittelalter-Begeisterung und frühen deutschen Nationalbewegung. Der Prozess einer allmählichen Professionalisierung und universitären Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft ging einher mit der Sehnsucht, nach der Erfahrung französischer Fremdherrschaft unter Napoleon Bonaparte (1769-1821) die Wurzeln deutscher Geschichte wissenschaftlich zu erforschen. Bekanntestes Beispiel ist das von Karl Freiherr vom und zum Stein (1757-1831) maßgeblich initiierte älteste deutsche Quelleneditionsunternehmen, die von der 1819 gegründeten "Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde" ins Leben gerufenen "Monumenta Germaniae Historica" (MGH). Seit 1826 werden in der Reihe der MGH historisch-kritische Editionen von mittelalterlichen Schriftquellen publiziert (vgl. bilanzierend Herbers, Monumenta, 2009, sowie den Abschnitt "Die digitalen Monumenta Germaniae Historica (dMGH)").

Das 19. Jahrhundert war zugleich das Zeitalter des Historismus, der eine allgemeine Historisierung des Denkens über menschliche Kultur und Werte sowie die Ermittlung theoretisch-methodisch gesicherter historischer Tatsachen propagierte, was durch systematische Quellenkritik bewerkstelligt werden sollte. Dies wies eine erkennbare Affinität zu den eigentlichen Aufgaben von Quelleneditionen auf. Die Erstellung von Quelleneditionen war somit ein Begleitphänomen des Übergangs von vornehmlich philosophischen Geschichtsbetrachtungen hin zu professionalisierten historischen Forschungen "modernen" Zuschnitts, wie sie im 19. Jahrhundert von Historikern wie Leopold von Ranke (1795-1886) und Johann Gustav Droysen (1808-1884) praktiziert wurden.

Im Zuge dieses Professionalisierungsschubs entstand der "moderne" Historiker, der sich gegenüber dem "klassischen" Gelehrten älteren Stils durch Beherrschung der Quellenkritik, umfangreiche Archiverfahrung und umfassende Kenntnis der Fachliteratur auszeichnete. Damit einher ging im 19. Jahrhundert eine große Wertschätzung der Hilfswissenschaften (Diplomatik, Chronologie, Kodikologie, Sphragistik usw.), deren souveräne Beherrschung den professionellen Historiker gegenüber dem historischen Laien auszeichnete. Ein entsprechend hoher Rang kam hierbei der Erarbeitung von Quelleneditionen zu, die auch und gerade ein Produkt des Drangs nach methodisch gesicherten Erkenntnissen waren. Die offenkundige Neigung des Positivismus zu Quelleneditionen liegt zu einem guten Teil darin begründet.

Mit der endgültigen Überwindung des Historismus in den Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der zunehmenden Frontstellung gegenüber positivistischen Tendenzen in der Geschichtswissenschaft gerieten auch Quelleneditionen unter Legitimationszwang. Vor diesem Hintergrund lässt sich bis in unsere Gegenwart hinein eine eigentümliche Diskrepanz feststellen: Einerseits bezweifelt kaum jemand die außerordentliche Bedeutung von Quelleneditionen als zentrale Fundamente historischer Forschung. Andererseits ist zu beobachten, dass es editorische Langzeitunternehmen bisweilen schwer haben, ihre Existenz zu legitimieren und damit auch ihre Grundlagenarbeit zu finanzieren. Der österreichische Historiker und Archivar Michael Hochedlinger hat dies wortgewaltig beklagt: "Weder die geduldige Aufarbeitung noch die auch formal mühsame Präsentation eines bestimmten Quellenbestandes entsprechen freilich dem Geist einer schnellebigen Zeit, die ganz auf das kurzfristig Spektakuläre und das mittelfristig Moderne konzentriert ist, aus Zeitmangel nur das leicht Verdauliche annimmt und einer Event- und Happening-Kultur anhängt, die hauptsächlich auf den äußeren Schein und entsprechenden Aktivismus und Aktionismus bedacht ist." (Hochedlinger, Ende, 2003, S. 99)

Die gegenwärtige Entwicklung deutet indes in eine andere Richtung. Mit den neuen Möglichkeiten, die das digitale Zeitalter für Quelleneditionen bereithält (vgl. den Abschnitt "Quelleneditionen im digitalen Zeitalter"), scheint das Potenzial von Quelleneditionen neu beurteilt zu werden. Zwar ist es noch zu früh, von einer neuerlichen Take-off-Phase von Quelleneditionen zu sprechen; dafür ist die Zahl wissenschaftlicher digitaler Quelleneditionen gegenwärtig noch zu gering. Es deutet sich aber bereits an, dass in zunehmendem Maße ein Bewusstsein dafür entsteht, dass digitale Quelleneditionen nicht nur den Anforderungen und Fragen, welche die Geschichtswissenschaft des 21. Jahrhunderts an das Quellenmaterial stellt, gerecht werden, sondern dass sie der historischen Forschung ihrerseits neue Perspektiven aufzeigen können.

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