Charakteristika digitaler Editionen
Die heutige Forschung setzt die Ära digitaler Editionen mit dem Einsatz der CD-ROM in der Editorik seit den 1990er Jahren an (vgl. Sahle, Editionsformen, 2013, Bd. 2, S. 26f). Erst die vergleichsweise große Speicherkapazität der CD-ROM hat es ermöglicht, neue Betriebs- und Präsentationsformen von Editionen anzugehen, die echte Alternativen zur traditionellen Edition in Buchform darstellen. Dass es dabei nicht geblieben ist, liegt unter anderem an den Nachteilen, die eine CD-ROM im Hinblick auf Lebensdauer und langfristige Nutzbarkeit aufweist. Insofern hat sich ein rascher Übergang zum Internet als bevorzugter Publikationsplattform vollzogen.
Die Charakteristika digitaler Quelleneditionen stehen in einem engen Zusammenhang mit den facettenreichen Möglichkeiten, die das Internet bietet. Dementsprechend gibt es auch nicht die digitale Quellenedition. Vielmehr ist die derzeitige digitale Editionslandschaft von einer Pluralität an Ansätzen und Ausdrucksformen gekennzeichnet. Einen guten Überblick vermittelt die kommentierte Auflistung digitaler Editionen von Patrick Sahle "A Catalog of Digital Scholarly Editions".
Wichtige Tendenzen sind derzeit:
1.) Digitale Quelleneditionen nehmen zunehmend Abschied von der den gedruckten historisch-kritischen Editionen zugrunde liegenden Idee, man müsse anhand der verschiedenen Überlieferungen eines Textes die eine letztgültige Fassung des Textes herstellen. Oftmals werden die Quellen in digitalen Editionen mehrstufig bearbeitet dargestellt, was in gedruckten Quelleneditionen in der Regel aus Platz- und Kostengründen nicht möglich ist: Neben einem digitalen Faksimile wird eine diplomatische Abschrift und ein historisch-kritisch konstituierter Text präsentiert. Diese Vorgehensweise erhöht die Transparenz der Eingriffe des Editors.
2.) Gerade durch die bildliche Wiedergabe der handschriftlichen Originalquellen in Form von Faksimile-Digitalisaten wird die Abnahme an Authentizität, wie sie für die traditionelle gedruckte Edition charakteristisch ist, deutlich verringert. Der Nutzer erhält die Möglichkeit, wie durch ein Schaufenster einen nahezu "direkten" Blick auf ein Dokument der Vergangenheit zu werfen, wie es ihm sonst nur im Archiv möglich wäre.
3.) Mit dem Wegfall des für gedruckte Editionen maßgeblichen Kriteriums der Rücksichtnahme auf den begrenzten Platz verstärkt sich die Tendenz, auch Vorstufen der zu edierenden Quellen, wie zum Beispiel erste Konzepte, mit in die digitale Edition zu integrieren. Gleiches gilt für Dokumente zur Kontextualisierung der Quelle, etwa zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte.
4.) Durch Verlinkungen werden digitale Quelleneditionen stärker eingebunden in ein virtuelles, multidimensionales Informationsnetz, das bildlich gesprochen Knotenpunkte aufweist, die außerhalb der Edition selbst liegen und zum Teil Möglichkeiten zur Interaktivität eröffnen (Stichwort "kollaboratives Arbeiten"). Dies verleiht der digitalen Edition einen deutlich dynamischeren Charakter als der sehr statischen typografischen Edition, die nach dem Druck in Form eines abgeschlossenen Werkes ein für allemal unverändert bleibt.
5.) Digitale Editionen im WWW werden immer stärker durch das Ziel geprägt, sie von der jeweiligen Medialisierung unabhängig zu machen. Dazu benutzt man heutzutage die Auszeichnungssprache XML (eXtensible Markup Language), die ihrerseits Grundlage des derzeitigen Standards für die Codierung elektronischer Texte in den Geisteswissenschaften ist, nämlich der Richtlinien der "Text Encoding Initiative" (TEI) (zu Details vgl. Cramme, Verfügbarkeit, 2007; Sahle, Editionsformen, 2013, Bd. 3). Eng damit verbunden ist die Frage der Nachhaltigkeit, nämlich die Möglichkeit einer langfristigen Nutzbarkeit in einem anwendungsneutralen Format (vgl. zusammenfassend Sahle, Editionsformen, 2013, Bd. 2, S. 70ff).
Im Rahmen dieser Charakterisierung aktueller Tendenzen digitaler Editorik sind bereits einige Vorteile digitaler Editionen angesprochen worden. Dies gilt es nun noch zu erweitern und den erkennbaren Nachteilen gegenüberzustellen.