Aufgaben der Epigraphik
Bevor man Inschriften auswerten kann, müssen eine Reihe grundlegender Aufgaben geleistet werden.
- Immer zu berücksichtigen ist der Fundort einer Inschrift, da sie nur im Kontext dieses Fundortes und seiner Umgebung zu verstehen ist. Es ist für die meisten Fragen wichtig, ob ein Text in Köln oder in Konstantinopel entstanden ist.
- Eine Inschrift ist als Monument zu verstehen: Grabinschriften haben je nach Herkunft andere Formen, können Werkstätten zugeordnet werden – und bei Denkmälern ist vielleicht die Inschrift der unwichtigste Teil. Wir reden häufig von „Ehreninschriften,“ die für Politiker etc. errichtet wurden, aber dieser Ausdruck ist missverständlich: die Ehrung bestand nicht in der Inschrift, sondern in einem Monument (meist einer Statue). Die Inschrift diente nur der Erklärung – doch der Stein überdauerte, während die Statue verschwand.
- Die Inschrift muss gelesen werden. Neben den Schwierigkeiten, die evtl. die scriptio continua oder sprachliche Besonderheiten mit sich bringen, kann der Erhaltungszustand eines Steins ein Problem sein: oft sind Inschriften wegen der Abnutzung der Steine schwer lesbar; noch häufiger sind Steine in viele Teile zerbrochen, von denen nicht alle erhalten sind. Aber selbst in diesen Fällen lässt sich vielleicht – unter Berücksichtigung der in der Zeit und Region üblichen Ausdrucksweise – ein verständlicher Text herstellen.
- Neben der Lesung ist also die Ergänzung einer Inschrift eine wichtige Aufgabe. Solche Ergänzungen können absolut sicher sein, aber je weiter sich ein Text von den üblichen Formularen entfernt, desto unsicherer werden sie. Deshalb ist es immer nötig, Ergänzungen zu kennzeichnen (dazu gibt es das sog. Leidener Klammersystem, das hier zu finden ist), und es ist nötig, solche Ergänzungen mit einer gewissen Vorsicht zu benutzen: historische Schlüsse von gewisser Reichweite sollten nicht auf Ergänzungen aufbauen (keine „history from square brackets“). Es ist also wichtig, sich Rechenschaft über die verschiedenen Klammen und ihre Bedeutung in einem epigraphischen Text geben zu können.
- Inschriften müssen datiert werden, wozu man innere wie äußere Anhaltspunkte benutzt: dazu gehören einerseits Angaben im Text, die eine Datierung ermöglichen, z.B. die Jahreszählung nach einer bestimmten Ära, die Angabe eponymer („dem Jahr den Namen gebender“) Beamter oder die Erwähnung anderweitig datierter Ereignisse. Schrift (s. o.) oder künstlerische Gestaltung erlauben ferner eine relative Datierung.
- Mit welcher Absicht wurde eine Inschrift errichtet? Diese Fragen müssen wir uns stellen, wenn wir sagen wollen, ob wir es mit einer Primärquelle zu tun haben – oder für welche Fragen die Inschrift eine Primärquelle darstellt. Generell kann man Inschriften jedenfalls nicht als Primärquellen einordnen, da sie fast immer mit einer Überlieferungsabsicht entstanden sind.
- Es gibt Inschriften, die ihren Wert in sich haben; das gilt auch für eine sog. „Ehreninschrift“, die z. B. die Laufbahn eines Senators wiedergibt. Aber wenn man wissen will, wie Laufbahnen abliefen, was für Beförderungskriterien es gab, dann muss man eine Vielzahl von Inschriften ansehen. Das führt zur Erstellung von sog. Corpora, d. h. den Versuchen, die Inschriften mit Blick auf ihre geographische Herkunft oder auf ausgewählte Sachthemen (z.B. Inschriften für Gladiatoren) möglichst vollständig zu erfassen. Zu den wichtigsten geographischen Corpora zählen die Inscriptiones Graecae (IG – Griechenland und die Inseln), das Corpus Inscriptionum Latinarum (CIL- der Bereich des Imperium Romanum), die Tituli Asiae Minoris (TAM – Teile Kleinasiens), die Inschriften griechischer Städte aus Kleinasien (IK). Alle Corpora und andere wichtige Publikationen zur Epigraphik erschließt der von F. Berard u.a. herausgegebene Guide de l’épigraphiste. Besonders wichtig, da besonders häufig zitiert, ist die von H. Dessau herausgegebene Auswahlsammlung Inscriptiones Latinae Selectae (ILS, auch nach dem Herausgeber D(essau) genannt).
Jährlich wird eine große Zahl von Inschriften neu gefunden, werden Inschriften neu ergänzt – d. h. Corpora veralten. Es gibt in einigen Bereichen dann Neuauflagen (Attika ist zu recht großen Teilen bereits in der 3. Auflage), aber daneben werden Neufunde oder Neulesungen in den Jahresbänden (meist mit einer Verzögerung von 2-3 Jahren) des Supplementum Epigraphicum Graecum (SEG) für griechische Inschriften bzw. der L’Année Épigraphique (AE) für römische Inschriften gesammelt.