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Revolutionen

Hans Werner Tobler

Revolutionen haben in LA, insbesondere im 20. Jh., einen markanten Typus beschleunigten politischen und gesellschaftlichen Wandels dargestellt. Allerdings halten nicht alle als „Revolutionen“ bezeichneten Ereignisse und Prozesse einer einigermaßen streng gefassten Begriffsbestimmung von R. stand, handelt es sich doch bei vielen dieser politischen Umbrüche viel eher um Staatsstreiche, pronunciamientos, Militärrevolten und Ähnliches. „Echte“ R. weisen vielmehr folgende Merkmale auf: sie bewirken – neben gewissen gesellschaftlichen Veränderungen – insbesondere eine radikale Umgestaltung der politischen Ordnung, die sich nicht auf einen Personalwechsel innerhalb der Führungsschicht beschränkt, sondern auch die sozialen Grundlagen politischer Herrschaft dauerhaft verändert. Daneben sind allerdings auch gewisse äußere Verlaufsformen für rev. Umbrüche charakteristisch, so etwa ein bestimmtes Ausmaß kollektiver Gewalt, ein Potenzial für die Mobilisierung breiter Bev.-Gruppen sowie die Dauer bzw. die zeitliche Komprimiertheit des Geschehens. Eine direkte Korrelation zwischen R. und der Tiefe der auf den Umsturz folgenden politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen ist allerdings keineswegs immer gegeben, wie ein Vergleich der R. in Mexiko und Kuba zeigt.

Abzugrenzen sind R. auch von jenen wiederum im 20. Jh. besonders häufigen Reformprozessen, die – in Form gewaltfreier Regierungspolitik oder einer R. „von oben“ – gewisse Strukturreformen anstrebten oder realisierten, so etwa der Varguismus (Populismus) in Brasilien, die kurzlebigen Reformen von Jacobo Árbenz in Guatemala, die Agrarreform in Peru unter den Militärs nach 1968, das Regierungsexperiment der Unidad Popular in Chile, die „bolivarische“ R. in Venezuela, aber auch jene hybriden Phänomene, die – wie etwa der Peronismus in Argentinien – als „Stückwerk-R.“ (Waldmann) bezeichnet worden sind.

Wie erwähnt, fallen die „großen“ R. LAs, wie auch jene in den ebenfalls peripheren Ländern Asiens und Afrikas, vor allem ins 20. Jh. Allerdings gehören in LA in gewissem Sinne auch die „Unabhängigkeits-R.“ zwischen 1809 und 1825 zum übergreifenden Phänomen der „Atlantischen R.“ des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jhs. Im Gegensatz zum Unabhängigkeitskrieg der englischen Kolonien in Nordamerika und zur „American R.“ unterschieden sich die Unabhängigkeitsprozesse in Spanisch-Amerika und in Brasilien aber sowohl in ihren Ursachen und Triebkräften, ihren Verlaufsformen und insbesondere ihren Auswirkungen deutlich von der US-amerik. Unabhängigkeit. Anders als in Nordamerika entsprangen die lateinamerik. Unabhängigkeitsbewegungen stärker internationalen Ursachen als internen Triebkräften. Die politischen und gesellschaftlichen Integrationseffekte des nordamerik. Unabhängigkeitskriegs fehlten weitgehend in den lateinamerik. Unabhängigkeitsbewegungen und die Auswirkungen auf die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse der neuen Staaten blieben im Süden wesentlich schwächer als im Norden. So überlebten im 19. Jh. in LA weitgehend die kolonial (Koloniale Geschichte) geprägten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse und insbesondere die ausgeprägt oligarchischen Machtstrukturen, die ihrerseits eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung rev. Bewegungen im 20. Jh. waren. Damit ergab sich in LA ein R.-Typus, der sich von den älteren, „bürgerlich“ ausgerichteten R. im Europa des ausgehenden 18. und 19. Jhs. deutlich unterschied, gleichzeitig aber jenen R. verwandt war, die sich in anderen Regionen der „weltwirtschaftlichen Peripherie“, d. h. in Asien und Afrika, im 20. Jh. ereigneten. Gemeinsam waren diesen R. gewisse „globale“ Verursachungsfaktoren, insbesondere ein wesentlich von außen induzierter Strukturwandel, der über die Mechanismen eines „informellen Imperialismus“ eingeleitet wurde und das Syndrom einer „konservativen Modernisierung“ (Moore) auslöste, dessen innere Widersprüche sich seit dem ausgehenden 19. Jh. sukzessive verstärkten und oft den Boden für nationalistische Abwehrreaktionen bereiteten.

Insbesondere im Agrarbereich kam es unter dem Einfluss dieser Durchdringung von außen häufig zu einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Krise, die sowohl auf die verstärkte Kommerzialisierung der Agrarproduktion als auch auf direkte Enteignungen kleinbäuerlichen Landes zurückzuführen war (Landbesitz). Da es sich bei den lateinamerik. Ländern bis weit ins 20. Jh. noch vornehmlich um Agrargesellschaften mit einem entsprechend hohen bäuerlichen Bev.-Anteil handelte, kam den Bauern, oder zumindest den ländlichen Unterschichten, eine wichtige Rolle als soziale Trägergruppe rev. Erhebungen zu, auch wenn die eigentliche Führung oft in den Händen kleinbürgerlicher Gruppen lag. Allerdings reichten diese eher strukturellen Makrofaktoren, die auch eine potenziell rev. Situation hervorbringen konnten, nicht aus, um eine tatsächliche R. auszulösen. Strukturell ähnliche Situationen haben keineswegs immer zu rev. Umbrüchen geführt. Im Gegenteil blieben solche auch im 20. Jh. eher die Ausnahme als die Regel. Zum Verständnis konkreter R. sind deshalb immer auch die jeweiligen innergesellschaftlichen, politischen und kulturellen Bedingungen in den einzelnen Ländern genauer zu untersuchen.

Die erste „große“ R. LAs im 20. Jh. brach 1910 in Mexiko aus, einem Land mit zunehmend ungleicher Landverteilung und entsprechend heftigen Landkonflikten, einer reformunwilligen Diktatur und einem wachsenden ausländischen, vorab US-amerik. Wirtschaftseinfluss. Die R. zeichnete sich durch drei Stoßrichtungen aus: Landreform, Demokratisierung des politischen Systems, nationale Kontrolle der Bodenschätze. Während der Sturz der alten politischen Herrschaftsclique bereits 1911 (und endgültig 1914) erfolgte, verliefen die wirtschaftlichen und sozialen Reformen wesentlich langsamer und wurden erst in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre weitgehend verwirklicht. Dies hing u. a. mit der ausgeprägten regionalen und insbesondere sozialen Heterogenität der verschiedenen mexikanischen R.-bewegungen zusammen, die 1915/16 zum Bürgerkrieg zwischen den ehemals verbündeten R.-bewegungen und dabei zur Ausschaltung des bauernrev. und sozialradikalen R.-flügels (Zapata und Villa) durch die eher kleinbürgerlich ausgerichteten nordmex. R.-bewegungen führten. Deren Exponenten betrieben eine zunehmend sozialkonservative Politik, die erst unter dem Präsidenten Lázaro Cárdenas (1934–1940) durch eine auf die ursprünglichen sozialen, wirtschaftlichen und nationalen R.-postulate ausgerichtete Reformpolitik abgelöst wurde.

Nach 1940 verzeichnete Mexiko – gestützt auf das postrev. korporatistisch-populistische System – zunächst hohe wirtschaftliche Wachstumsraten bei bemerkenswerter politisch-gesellschaftlicher Stabilität, bevor in den letzten Jahrzehnten des 20. Jhs. dieses autoritäre Regime sowohl politisch als auch sozial und wirtschaftlich immer stärker unter Druck geriet. Seit den 1980er-Jahren wurden denn auch zentrale R.­postulate, wie etwa die Agrarreformgesetze oder der Wirtschaftsnationalismus, sukzessive über Bord geworfen und in den Präsidentschaftswahlen des Jahres 2000 auch die jahrzehntelange Vorherrschaft der „Partei der Institutionalisierten R.“ (PRI) beendet.

Einen deutlich anderen Verlauf nahm die zweite „große“ R. LAs im 20. Jh. in Kuba. Obwohl die castristische „Aufstandsbewegung des 26. Juli“, die im Januar 1959 das Batista-Regime stürzte, viel weniger eine breit abgestützte Massenerhebung war als die R. in Mexiko, sollten sich die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in Kuba als weit radikaler herausstellen. Auffallend am Verlauf der Kubanischen R. war ihre rasche Radikalisierung in sozialistischer Richtung. Diese war einerseits Ausfluss des sich anfangs der 1960er-Jahre zuspitzenden Konflikts mit den USA und der darauffolgenden Annäherung an die Sowjetunion. Sie konnte andererseits ohne großen internen Widerstand durchgesetzt werden, weil ein Großteil der alten Oberschicht nach dem Sturz Batistas in die USA emigrierte und z. B. die Kollektivierung der Landwirtschaft hier kaum auf Widerstand eigentumsorientierter Bauern stieß.

Nach der Überwindung der kubanisch-amerik. Raketenkrise von 1962 konnte Kuba unter dem außenpolitischen Schutz der Sowjetunion und, dank wirtschaftlicher Unterstützung durch die COMECON-Staaten, trotz vielfältiger wirtschaftlicher Probleme, eine Reihe umfassender Sozialreformen, insbesondere im Bereich des Bildungs- und Gesundheitswesens, realisieren. Die zunehmende politische Konsolidierung und Institutionalisierung erlaubte dem Regime auch, den Verlust seiner ehemaligen wirtschaftlichen und politischen Partner in der Sowjetunion und Osteuropa Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre zu überstehen. Durch gewisse wirtschaftliche Liberalisierungen und politische Konzessionen vermochte sich das Castro-Regime bis heute, also über einen Zeitraum von mehr als einem halben Jh., an der Macht zu halten.

R. Charakter hatten auch die Umbrüche in Bolivien (1952) und Nicaragua (1979). Im Unterschied zu den R. in Mexiko und Kuba vermochten sie allerdings die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse nicht dauerhaft zu verändern.

In Bolivien kam es 1952, nach dem vom Militär gewaltsam verhinderten Wahlerfolg des Movimiento Nacionalista Revolucionario (MNR) von 1951, zu einer Revolte von Minenarbeitern, Studenten und Teilen der Armee, die eine Reihe von Sozialreformen, insbesondere die Verstaatlichung der zentralen Zinnminen und später auch eine Landreform, einleitete. Trotz der Auflösung der alten Armee und der Bildung von Arbeitermilizen konnte sich das rev. Regime nicht langfristig an der Macht halten. In den 1960er­Jahren wurde die neu entstandene Armee wiederum zum entscheidenden Machtfaktor, der, wie im übrigen LA, eine vornehmlich konservative Politik durchsetzte (Militär).

In Nicaragua kam es Ende der 1970er-Jahre zu einem breiten sozialen Volksaufstand gegen die langlebige Diktatur der Somoza-Dynastie. Der Sturz Somozas machte den Weg frei für das sandinistische R.-Regime der 1980er-Jahre, das teilweise einen ähnlichen Kurs wie die kubanische R.-Führung in den 1960er-Jahren steuerte. Die an sich durchaus positive Reformbilanz im Bereich der Landreform, des Gesundheitswesens und insbesondere der Bildung (Alphabetisierung) wurde allerdings durch die sich immer mehr verschärfende Wirtschaftskrise überschattet, die zu einem erheblichen Teil durch das US-Wirtschaftsembargo und den von den USA unterstützten Contrakrieg verursacht wurde. Diese Faktoren bewirkten 1990 schließlich mit der demokratischen Abwahl der Sandinisten auch das Ende der nicaraguanischen R.

Wie weit haben R. in LA den Kurs der historischen Entwicklung im Vergleich zu den säkularen kontinentalen Trends verändert? Am umfassendsten erfolgte der politisch-gesellschaftliche Umbruch zweifellos in Kuba. Dort hat die R. auch den Zusammenbruch der sowjetisch-ost­europ. kommunistischen Regime überstanden, wenn auch insbesondere die wirtschaftlichen und innenpolitischen Verhältnisse in Kuba durchaus prekär geblieben sind. In Bolivien und Nicaragua blieben dagegen die durch die R. ausgelösten Veränderungen partiell und kurzlebig. Komplexer war die Entwicklung in Mexiko. Obwohl die R. das Land bis gegen Ende des Jhs. nachhaltig prägte und in gewissen Bereichen eine eigenständige Entwicklung bewirkte, bleibt auch im nachrev. Mexiko, nicht anders als im übrigen LA, eine Reihe gravierender Probleme wie etwa weitgehend fehlende Rechtsstaatlichkeit, ausgeprägte soziale Ungleichheit oder wirtschaftliche Abhängigkeit weiterhin ungelöst.

Literaturhinweise

Pérez-Stable: The Cuban Revolution: Origins, Course, and Legacy, Oxford 1993; H.-J. Puhle (Hg.): Revolution und Reformen in Lateinamerika, in: Geschichte und Gesellschaft 2,2 (1976), 143–159; H. W. Tobler: Die mexikanische Revolution – Gesellschaftlicher Wandel und politischer Umbruch, 1876–1940, Frankfurt a. M. 1992.

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