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Tobias Kohen (1652-1729) – der erste jüdische Student in Deutschland

Jüdische Studenten im frühneuzeitlichen Europa

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Das Aufeinanderfolgen traditioneller jüdischer und moderner säkularer Ausbildung im siebzehnten Jahrhundert <footnote data-id="fn1" data-anchor="anmerkung1">[1]</footnote> lässt sich gut am Beispiel des Tobias Kohen verfolgen.

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Man kann davon ausgehen, dass Tobias Kohen in seiner Kindheit sowohl von seinem Vater als auch von institutionellen Ausbildungsstätten in Metz eine erste Erziehung erhalten hat, vielleicht war er bereits zur Mischnah vorgedrungen. Eine Verlagerung dieser Ausbildung nach Krakau erscheint in sofern sinnvoll, als dass Krakau, neben den verwandtschaftlichen Beziehungen, die dorthin bestanden, als eine der wichtigsten Orte der osteuropäischen Talmudgelehrsamkeit galt. Wenn Tobias eine gute rabbinische Ausbildung absolvieren sollte, war Krakau ein guter Ort dafür. <footnote data-id="fn2" data-anchor="anmerkung2">[2]</footnote>

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Da aber der Beruf des Rabbiners nicht darauf ausgerichtet ist, mit der Torah Geld zu verdienen <footnote data-id="fn3" data-anchor="anmerkung3">[3]</footnote> , besteht für Tobias eine Verpflichtung, noch eine weitere Ausbildung zu absolvieren. Dabei liegt es natürlich nahe, denselben Beruf wie seine Vorfahren zu wählen, nämlich den eines Arztes. Nicht nur die Familientradition spricht dafür, sondern auch das bereits erwähnte hohe Prestige dieser Profession. <footnote data-id="fn4" data-anchor="anmerkung4">[4]</footnote> Nun sind im siebzehnten Jahrhundert die Zeiten vorbei, in denen man sich einen Arzt suchte, bei dem man die entsprechende Praxis erlernen konnte, wie es beispielsweise Maimonides im zwölften Jahrhundert gemacht hatte. <footnote data-id="fn5" data-anchor="anmerkung5">[5]</footnote> Die Akademisierung des Arztberufes hat dazu geführt, dass eine entsprechende Ausbildung Sache einer Universität ist. Tobias Kohens Wahl fiel auf Frankfurt an der Oder. Warum gerade Frankfurt? Zunächst muss man einmal mit Monika Richarz <footnote data-id="fn6" data-anchor="anmerkung6">[6]</footnote> feststellen, dass sich die Universitäten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation nach den Zerstörungen des Dreißigjährigen Krieges in einem eher schlechten Zustand befanden und mit der internationalen Konkurrenz nicht mithalten konnten. Dazu kommt noch, dass viele dieser Hochschulen konfessionell ausgerichtet waren und von daher für Juden nicht offenstanden. In der Wende vom siebzehnten zum achtzehnten Jahrhundert fungierten einige theologische Fakultäten als Vorzensoren hebräischer Bücher und übten damit Druck auf das jüdische Publikationsverhalten aus. Bereits vorher hatten sich deutsche Universitäten durch antijüdische Aktionen profiliert <footnote data-id="fn7" data-anchor="anmerkung7">[7]</footnote>: Die medizinische Fakultät in Mainz setzte sich 1663 für die Ausweisung eines jüdischen Arztes ein, dem sie unterstellte, nur unzureichend qualifiziert zu sein. Eine mögliche oder tatsächliche Konkurrenz durch jüdische Ärzte wurde immer wieder heftig bekämpft, indem am entweder diese Ärzte auswies oder Christen die Konsultation nichtchristlicher Ärzte verbot. Gespannte Wirtschaftsbeziehungen zwischen christlichen Studenten und jüdischen Händlern führten immer wieder zu Ausschreitungen, so zum Beispiel im Jahre 1665, als Kölner Studenten Angehörige der Deutzer jüdischen Gemeinde angriffen. <footnote data-id="fn8" data-anchor="anmerkung8">[8]</footnote> Glückel von Hameln schrieb in ihren Memoiren über Helmstedt <footnote data-id="fn9" data-anchor="anmerkung9">[9]</footnote>: „Dort ist eine Hochschule, daher ist es ein böser Ort.“ Gemeint war natürlich, dass der Ort für Juden gefährlich war.

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Im europäischen Rahmen gab es traditionell zwei Gebiete, deren Universitäten jüdischen Medizinstudenten offenstanden <footnote data-id="fn10" data-anchor="anmerkung10">[10]</footnote>: Die Niederlande mit Leiden und Italien mit Neapel, Bologna, Pisa, Padua, Pavia und Perugia.

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Gerade dem Umstand, dass sich die deutschen Universitäten in so einem beklagenswerten Zustand befanden, war es zu verdanken, dass sie sich neuen Studierenden öffnen mussten. <footnote data-id="fn11" data-anchor="anmerkung11">[11]</footnote> Um der Entvölkerung weiter Landstriche entgegen zu wirken lag es nahe, ebenso wie auch Juden als Neusiedler zugelassen wurden, Juden an die medizinischen Fakultäten zu locken. Die protestantischen Hochschulen taten sich dabei leichter als die katholischen. Das hatte zum einen mit dem Selbstverständnis dieser Bildungseinrichtungen zu tun: Die katholischen Universitäten verstanden sich weiterhin in erster Linie als Ausbildungsstätten für den klerikalen Nachwuchs, weniger als Orte der reinen Wissenschaft.  Im Gegensatz dazu stand bei den protestantischen Landesherren der wirtschaftliche Nutzen im Vordergrund, so dass sie eine größere Bereitschaft zeigten, auch Angehörige anderer Glaubensrichtungen als Studenten zuzulassen.
 

Anmerkungen

<footnote data-id="anmerkung1" data-anchor="fn1">[1]</footnote> Zur Bildungssituation der Juden im 17. Jahrhundert vgl. Monika Richarz, Der Eintritt der Juden in die akademischen Berufe, Diss. Tübingen 1972 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts 28), S. 1-14.

<footnote data-id="anmerkung2" data-anchor="fn2">[2]</footnote> Zu Bedeutung und Geschichte der Juden in Krakau vgl. Arthur Cygielman, Cracow, in: Encyclopedia Judaica: Bd. V, Detroit 2  2007, S. 256-263.

<footnote data-id="anmerkung3" data-anchor="fn3">[3]</footnote> Vgl. Leah Bornstein-Makovetsky, Rabbi, Rabbinate, in: Encyclopedia Judaica: Bd. XVII, Detroit 2  2007, S. 12 und Richarz, Eintritt, S. 4.

<footnote data-id="anmerkung4" data-anchor="fn4">[4]</footnote> Vgl. dazu Suesman Muntner, Medicine, in: Encyclopedia Judaica: Bd. XIII, Detroit 2  2007, S. 720 f. und Richarz, Eintritt, S. 25.

<footnote data-id="anmerkung5" data-anchor="fn5">[5]</footnote> Vgl. Sarah Stroumsa, Maimonides in his World. Portrait of a Mediterranean Thinker, Priceton / Oxford 2009, S. 128-138.

<footnote data-id="anmerkung6" data-anchor="fn6">[6]</footnote> Monika Richarz, Eintritt, S. 15.

<footnote data-id="anmerkung7" data-anchor="fn7">[7]</footnote> Vgl. Louis Lewin, Die jüdischen Studenten an der Universität Frankfurt an der Oder, in: Jahrbuch der jüdisch-literarischen Gesellschaft 14 (1921), S. 217 f. und Richarz, Eintritt, S. 16.

<footnote data-id="anmerkung8" data-anchor="fn8">[8]</footnote> Vgl. Richarz, Eintritt, S. 17.

<footnote data-id="anmerkung9" data-anchor="fn9">[9]</footnote> Hier zitiert nach Richarz, Eintritt, S. 17.

<footnote data-id="anmerkung10" data-anchor="fn10">[10]</footnote> Vgl. Richarz, S. 25-27.

<footnote data-id="anmerkung11" data-anchor="fn11">[11]</footnote> Vgl. Richarz, Eintritt, S. 28.