zum Inhalt springen

Was ist ein Archiv?

vergrößern: Foto: Martin Burkhardt.
Ein typischer Arbeitsplatz im Archiv anno 2004

Zu unterscheiden sind der unschärfere allgemeine Sprachgebrauch und die archivistische Definition.  

 ... im öffentlichen Sprachgebrauch

Im öffentlichen Sprachgebrauch bezeichnet "Archiv" so ungefähr alles, was eine größere Menge schriftlicher Informationen in einer irgendwie strukturierten Form beinhaltet und keine Bibliothek ist. Ein "Archiv" in diesem Sinne kann der riesige Zettelkasten des Walter Kempowski ebenso sein wie die Datensammlung eines Zeitungsverlags über Personen und Institutionen, in Online-Periodika verweist der Begriff auf die Beiträge der vorigen und älterer Ausgaben, und mitunter bildet er einen Zeitschriftentitel ("Archiv für Sozialgeschichte" usw.). 

... im strengen archivfachlichen Sinne

Im strengen archivfachlichen Sinne ist ein Archiv eine Institution, die Archivalien oder (synonym) Archivgut verwahrt, und Archivgut muss jede der folgenden drei Bedingungen erfüllen: a) Ist im Geschäftsgang einer juristischen oder natürlichen Person entstanden; b) wird zur Erledigung der laufenden Geschäfte nicht mehr benötigt; c) hat bleibenden Wert.

Der wichtigste Begriff in dieser Definition ist der "Geschäftsgang". Der verweist darauf, dass der Inhalt eines Archivs in amtlicher oder geschäftlicher, jedenfalls nicht privater Tätigkeit entstanden ist. So handelt es sich bei Archivalien typischerweise um Akten, die in der Regel Unikate sind - im Unterschied zur Bibliothek, deren Bücher je nach Vertrieb und Auflagenhöhe mehr oder weniger bequem auch woanders zu bekommen sind [1].

Die völkisch angehauchte ältere Definition von a) führt an Stelle des Verbs "entstanden" den Begriff "organisch erwachsen", womit, bedauernd zugegeben, der Hauptunterschied zum Museum besonders deutlich hervortritt; das Museum verwahrt ja auch alte Sachen, die oftmals (in Gemäldegalerien: ausschließlich) Unikate sind. Aber das Museum akquiriert planmäßig, es kauft an, es lässt sich auch schenken; das Archiv hingegen muss nehmen, was in seinem Zuständigkeitsbereich anfällt, die abgebenden Stellen unterliegen umgekehrt einer Abgabepflicht, und deshalb bezahlt das Archiv für die übernommenen Schätze keinen Cent.  

Das gezielte Akquirieren von Daten und Fakten aus verschiedenen Quellen auf einen punktuellen Betreff - z.B. alles aus 15 oder 30 für seriös erachteten internationalen Periodika über Helmut Kohl - charakterisiert die Arbeit von Dokumentaren. Bei einem Archivbestand verhält es sich genau anders herum: Er fließt aus einer Quelle - z.B. der Abteilung für den Straßen- und Wasserbau im württembergischen Innenministerium -, und kann zu den verschiedensten technik-, wirtschafts-, umwelt-, mentalitäts-, personen- usw. -geschichtlichen Fragen Auskunft geben. 

vergrößern: Foto: Martin Burkhardt.
Bände in einem Archivmagazin

Wer sich mit Archivaren unterhält, wird bald bemerken, wie häufig sie von "Provenienzen" sprechen, wie wichtig ihnen Zusammenhänge sind. Zu Recht. Einer seriösen Recherche genügt es keinesfalls, irgendwo die Sätze zu finden: "Auch wegen unseres besonderen Schutzhäftlings ,Eller' wurde erneut an höchster Stelle Vortrag gehalten. Folgende Weisung ist ergangen: Bei einem der nächsten Terrorangriffe auf München bzw. auf die Umgebung von Dachau ist angeblich ,Eller' tötlich verunglückt." Dieser Befehl zum Mord an dem Hitler-Attentäter Georg Elser erlangt erst dann die Qualität einer verwertbaren Aussage, wenn das "Drumherum" geklärt ist: Wer hat ihn wann aufgeschrieben, in welcher Funktion, unter welchen Umständen und zu welchem Zweck? Was steht sonst noch in dieser Akte und wer hatte im Lauf der Zeit Zugriff darauf? - Eine Akte mit der Aufschrift »Karlheinz Schreiber / Parteispende« wäre kaum halb so interessant, wenn man nicht wüsste, ob sie aus dem Büro von Wolfgang Schäuble oder dem von Brigitte Baumeister stammt.

Aus ihrem Zusammenhang gerissene Einzel-Akten verlieren erheblich an Aussagekraft und Glaubwürdigkeit. Natürlich enthält eine umgebungslose Archivalie noch eine Menge Informationen, im Verhältnis etwa so viel wie ein Blatt, das mitten aus einem Roman herausgerissen ist, so dass findige Leute sogar ermitteln könnten, um welchen Roman es sich handelt. Doch meist ähnelt die Akte ohne Provenienz dem beim Raubgraben erbeuteten Caracalla-Aureus ohne Dokumentation von Fundort und -umständen, der so für die Archäologie wissenschaftlich wertlos bleibt.
 

Anmerkungen

[1] Selbstverständlich verwahren zahlreiche Bibliotheken Handschriften oder andere Unikate, und die Archive enthalten viele Drucke und "Bücher" - aber dieser Leitfaden stellt die generelle Linie vor, den Regelfall, das Charakteristikum, und nie die letzte abwegige Ausnahme.