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Allgemeine Techniken und Fachbegriffe

Zu Beginn der Arbeit an einer Quellenedition hat der Editor eine schwierige Entscheidung zu treffen: Soll er die edierte Quelle möglichst vorlagengetreu aufbereiten oder soll er sie im Sinne einer besseren Lesbarkeit modernisieren, d.h. stärker in den Quellentext eingreifen? Er muss sich also im Spannungsfeld von Authentizität und Fremdeingriffen positionieren. Dieses Dilemma muss sich der Nutzer stets bewusst machen, denn die Entscheidung, die der Editor in dieser Grundfrage fällt, strukturiert die Gestalt einer Edition.

Der Tendenz nach beantworten die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen diese fundamentale Frage unterschiedlich. Generell lässt sich festhalten, dass die philologischen Fächer schon seit längerer Zeit stärker auf eine möglichst authentische Wiedergabe der Quelle bedacht sind, bei der größere Eingriffe des Editors nach Möglichkeit vermieden werden. Das "klassische" Beispiel für ein solches Verfahren der Textedition wird in der Editionswissenschaft als diplomatischer Abdruck bezeichnet: Der handschriftliche Text wird so weitgehend wie möglich in der Form und gemäß dem Buchstabenbefund der handschriftlichen Vorlage in die gedruckte Edition übertragen. Der Text wird also weitgehend unverändert und unter Beibehaltung sämtlicher Eigenheiten (inklusive Fehlern) gedruckt, um ihn nicht für sprachwissenschaftliche Fragestellungen unbrauchbar zu machen.

In der Geschichtswissenschaft lässt sich dagegen traditionell die Neigung beobachten, in stärkerem Maße normalisierend und modernisierend in die zu edierenden Quellentexte einzugreifen. Dies betrifft zum Beispiel die Textgliederung, Orthografie, Interpunktion und nicht zuletzt auch offenkundige Versehen des Schreibers, die gegebenenfalls sogar stillschweigend korrigiert werden. Dahinter steht die Absicht, dem Nutzer primär einen stilistisch geglätteten und leicht lesbaren Text zu präsentieren. Die Rücksichtnahme auf mögliche sprachwissenschaftliche Erkenntnisse tritt demgegenüber eher zurück. Als wegweisend erwiesen sich dabei langfristig gesehen die "Monumenta Germaniae Historica" und die maßgeblich von Ranke Mitte des 19. Jahrhunderts in die Wege geleiteten "Deutschen Reichstagsakten" (zu diesem Editionsunternehmen vgl. Wolgast, Reichstagsakten, 2008; Neuhaus, Reichstagsakten, 2009), die beide dem Prinzip der Normalisierung auf Kosten der Quellennähe den Vorzug gaben. Viele Editionen sind dieser Tendenz gefolgt, auch wenn sich in neuerer Zeit in der deutschen Geschichtswissenschaft ein Prinzip durchgesetzt hat, das man als gemäßigte Normalisierung bezeichnen kann und das von dem Bemühen gekennzeichnet ist, den Wünschen der Germanisten entgegenzukommen (vgl. Thumser, Verfahrensweisen, 2003).

Kritiker bemängeln an Editionen, in denen Normalisierungen und Modernisierungen im edierten Text vorgenommen wurden, dass sie ahistorische, vom subjektiven Willen des Editors konstruierte Texte vorlegen, die mitunter erheblich von der Originalquelle abweichen. Dies verweist auf ein Grundproblem traditioneller Editionen: Sie kreieren mit ihrem editorisch bearbeiteten Quellentext mitunter einen "text that never was" (David C. Greetham), d.h. sie re-konstruieren ‒ bei allem Bemühen um textkritische Vollständigkeit und Korrektheit ‒ lediglich eine Textfassung, die nahe an die Originalquelle heranreichen kann, aber nie mit ihr identisch ist. Insofern lässt sich zugespitzt sagen, dass Quelleneditionen ‒ ganz ähnlich übrigens wie Übersetzungen ‒ immer auch der Charakter einer Interpretation innewohnt (vgl. Sahle, Editionsformen, 2013, Bd. 1, S. 57 und 210). Dass im Rahmen digitaler Editionen auch Faksimile-Digitalisate der handschriftlichen "Originalquelle" integriert werden (vgl. den Abschnitt "Charakteristika digitaler Editionen"), ist vor diesem Hintergrund jedenfalls sehr zu begrüßen. Denn dadurch werden die im edierten Text vorgenommenen Normalisierungen und Modernisierungen leichter erkennbar, als dies in traditionellen Druckeditionen in der Regel der Fall ist.

Was muss man sich unter diesen eher allgemein-abstrakten Ausführungen konkret vorstellen? Wir kommen nun zur eigentlichen Editionspraxis.

Schematisch lassen sich folgende Arbeitsschritte eines Editors unterscheiden: In einem frühen Stadium der Edition geht es um das Auffinden und Sammeln aller überlieferten Handschriften und Drucke des zu edierenden Textes. Diesen Arbeitsschritt nennt man die Heuristik ("Findekunst", nach griechisch "finden").

Im Anschluss wird eine Transkription (nach lateinisch "trans" = "hinüber" und "scribere" = "schreiben"), also eine Umschrift des zu edierenden, meist handschriftlich vorliegenden Quellentextes angefertigt. Dies erfordert zumeist gute paläografische Kenntnisse.

Dabei bleibt es jedoch nicht, sondern der Editor verschafft sich einen Überblick über das von ihm zusammengetragene Material und vergleicht die ermittelten Überlieferungen des zu edierenden Textes. Diesen Arbeitsschritt nennt man Kollation (nach lateinisch "collatio" = "Vergleich"). Ziel der Kollation ist es, Verwandtschaftsverhältnisse, Abhängigkeiten und Unterschiede der einzelnen Überlieferungen des zu edierenden Textes zu ermitteln. Also: Welche Handschrift wurde von welcher anderen Handschrift abgeschrieben? Gibt es eine Urfassung? Oftmals erfolgt dies mithilfe einer Visualisierung in Form eines Stemmas (nach griechisch "Stammbaum"), das die Überlieferungsgeschichte und Abhängigkeiten der einzelnen Überlieferungen darstellt.

vergrößern: Stemma: Kollation
Abb. 1: Stemma

Dieses Stemma ist wie folgt zu verstehen: Der Verfasser der Quelle schreibt seinen Text handschriftlich nieder (H1). Hierauf beruht der Erstdruck der Quelle (D1). Auf Grundlage dieses Erstdrucks wird ein weiterer Druck (D2) angefertigt. Der Verfasser überarbeitet jedoch handschriftlich (H2) den Erstdruck, was wiederum Grundlage für einen neuerlichen Druck ist (D3).

In der Philologie werden die Kollation, Stemmatisierung und die damit mitunter einhergehende Ermittlung eines Archetyps (nach griechisch "arche" = "Ursprung" und "typos" = "Geformtes"; gemeint ist der älteste, aus allen vorliegenden Überlieferungen eines Textes zu erschließende Überlieferungszustand eines Textes) unter dem Arbeitsschritt der Recensio (nach lateinisch "Musterung") zusammengefasst.

Nach der Auswahl und Festlegung der Textgrundlage, die auf der Grundlage der gerade geschilderten Arbeitsschritte erfolgt, geht der Editor daran, die Textkonstitution des zu edierenden Textes zu bewerkstelligen. Hierbei hat er die Aufgabe der Emendation (nach lateinisch "emendare" = "berichtigen", "verbessern"), d.h. er muss eindeutig erkennbare Fehler, wie zum Beispiel Verschreibungen, Hör- und Druckfehler, sowie Fremdeingriffe beseitigen.

Gegebenenfalls verändert er den ihm vorliegenden Text an Stellen, die dem Wortgebrauch und Stil des Autors und dessen Zeit nicht zu entsprechen scheinen, um auf diese Weise den originalen Text wiederherzustellen. Diese eher ästhetische Emendation nennt man Konjektur (nach lateinisch "coniectura" = "Vermutung"). Die gegenwärtige Tendenz geht allerdings dahin, in puncto Texteingriffen immer vorsichtiger vorzugehen und Verbesserungen äußerst behutsam vorzunehmen.

Aufgrund der großen Quellenmasse neuzeitlicher Akten wird der Editor bisweilen Entscheidungen darüber treffen müssen, (1.) welche Texte überhaupt in die Edition aufgenommen werden sollen, (2.) welche Texte vollständig und (3.) welche Texte nur im Auszug, gegebenenfalls mittels Zusammenfassung der ausgelassenen Stellen, abgedruckt werden sollen.

Nach Abschluss der Textkonstitution kann der Editor darangehen, den wissenschaftlichen Apparat zu erstellen, die Einleitung zu verfassen, die editionstechnischen Regeln darzulegen, Materialien zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des edierten Textes aufzubereiten und schließlich die Register zu erstellen. Über die Texterschließung durch Erläuterungen und Kommentar wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Zwar wird die generelle Notwendigkeit einer texterschließenden Kommentierung nicht bestritten; über den angemessenen Umfang herrscht jedoch Uneinigkeit. Das Meinungsspektrum reicht hierbei von der Beschränkung auf das absolut Notwendige bis hin zu einer nahezu lexikalischen Kommentierung (vgl. Lanzinner, Text, 2005, S. 101). Oftmals sind bei gedruckten Editionen Fragen des zur Verfügung stehenden Platzes und finanzielle Erwägungen ausschlaggebend für die jeweilige Vorgehensweise. Dass es sich bei digitalen Quelleneditionen anders verhält, wird noch darzulegen sein (vgl. insbesondere den Abschnitt "Vor- und Nachteile digitaler Editionen gegenüber typografischen Editionen").