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Exkurs: Forschungsgeschichte

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Der Stammbaum der sozialen Netzwerkeanalyse (Scott 2017, 13, Abb. 2.1.)

Die Netzwerktheorie und ihre Analysemethode(n) entstammen ursprünglich aus der Soziologie, weswegen die Soziale-Netzwerk-Analyse (engl. social network analysis, kurz SNA) auch die älteste Ausprägung der Netzwerktheorie ist. Die SNA entstand in der ersten Hälfte des 20. Jhds. in anthropologischen und soziologischen Kreisen des angloamerikanischen Sprachraumes, um die strukturellen Merkmale – ‚Verflechtungen‘ und das ‚Ineinandergreifen‘ – von Beziehungen (engl. relations) zu erfassen, durch die soziale Aktionen organisiert sind. In diesem Kontext bediente man sich vor allem Metaphern aus dem Textilgewerbe, sodass man vom Stoff (engl. fabric) und Netz (engl. web) des sozialen Lebens/Interagierens sprach. Wichtig ist anzumerken, dass hier zu Beginn noch kaum mathematisch-technische Untersuchungsmethoden angewandt worden sind.

Zwischen den 1930ern und 1970ern änderte sich das und es wurde zunehmend versucht, diesen Metaphern – mithilfe von mathematischen Methoden – konkrete (im besten Fall empirische) Erkenntnisse abzuringen; dies führte vor allem dazu, dass man die Dichte (engl. density), Konnektivität (engl. connectivity, oder auch connectedness) und Struktur (engl. texture) sozialer Netzwerke betrachtete und mit entsprechenden mathematisch-statistischen Methoden untersuchte. Daraufhin wurden diese Methoden zunehmend ausdifferenziert, die mit der Netzwerktheorie befassten Wissenschaftler*innen spezialisierten sich immer mehr und es wurde versucht, die ursprünglich eher losen Grundideen zu systematisieren.

Generell kann man erst beginnend mit den 1930ern von Sozialer Netzwerkanalyse im modernen Sinne sprechen. Hier bildeten sich drei Strömungen heraus, welche SNA in der heutigen Form stark geprägt haben, bzw. aus denen sich die heutige Netzwerkanalyse entwickelt hat.

Erstens, die Strömung der soziometrischen Analyse (engl. sociometric analysis), welche sich vor allem mit kleinen Gruppen beschäftigte und die Grundlage für viele der technischen Aspekte wie die Anwendung der Graphentheorie als spätere (und heute zentrale) Analysemethode gelegt haben. Verbunden damit sind u.a. die beiden Namen Jacob L. Moreno, eines Psychiaters, und Helen Jennings, einer Psychologin. Beide unternahmen Studien und Untersuchungen zuerst an Häftlingen und später an einer Erziehungsanstalt für Mädchen, um etwaige therapeutische Ansätze aus den interpersonellen Beziehungsgeflechten ableiten zu können. Auf diese Arbeiten geht die Entwicklung des Soziogramms als eine Möglichkeit, die formalen Eigenschaften (sozialer) Beziehungsgeflechte darzustellen, zurück, welches bis heute zusammen mit der Graphentheorie grundlegend für jede Art von Netzwerktheorie und -analyse ist.

Zweitens, die Gruppe der Forscher*innen, die sich in den 1930ern mit der Bestimmung von Mustern interpersoneller Beziehungen und der Formierung von Gruppen/Cliquen (engl. cliques) beschäftigt haben. Dieser Zweig geht auf den deutschen Psychologen Kurt Lewin zurück, welcher 1936 ein Stellenangebot der University of Iowa annahm. Zusammen mit einer Gruppe graduierter Student*innen und Postdocs entwickelte er einen strukturellen Ansatz und führte soziale Netzwerk-Untersuchungen auf dem Gebiet der sozialen Psychologie mit dem Schwerpunkt der Untersuchung von Gruppen durch. Diese Forscher*innengruppe wechselte 1945 ans M.I.T. (Massachusetts Institute of Technology) und nach dem Tod Lewins 1947 erneut an die University of Michigan. Bei seinen Untersuchungen setzte sich Lewin sehr stark für mathematische Ansätze und Modelle ein (u.a. die Feld-Theorie), was eine wichtige Basis für die Integration mathematisch-statistischer Modelle in darauf aufbauende Arbeiten legte. Dorwin Cartwright und Frank Harary wandten in den 1950ern dann das erste Mal die Graphentheorie auf das Verhalten von Gruppen an, woraus die Theorie von der Gruppendynamik entstand. Dies führte dazu, dass SNA sich nun nicht mehr nur mit der Perspektive von Individuen auf Gruppen und Beziehungen befassen konnte, sondern auch mit den Gruppen und deren Verhalten an sich (sowohl nach innen, die Balance der einzelnen Personen dieser Gruppe betreffend, aber auch nach außen hin, wie sich die Gruppe abgrenzt/interagiert/Dinge wahrnimmt/sich Individuen dadurch in bestimmten Rahmen bewegen können). Damit erhielt auch das Konzept der Balance und Ausgeglichenheit (oder des Ungleichgewichts) Einzug in die Netzwerkanalyse.

Und drittens, die Gruppe der Sozialanthropologen, welche auf diesen Ansätzen aufgebaut haben, um die Struktur von gesellschaftlichen Beziehungen in Stammesgesellschaften und (Dorf-)Gemeinschaften zu untersuchen. Diese entstand vor allem in den 1930ern und 1940ern an der Harvard University mit dem Ziel, informelle Beziehungen in größeren (Gruppen-)Systemen zu untersuchen, was zu der empirischen Entdeckung führte, dass diese Systeme (wie Stämme, Dorfgemeinschaften, aber auch Staaten) aus zusammenhängenden Untergruppierungen bestehen, bzw. Untergruppierungen beinhalten. Im Weiteren wurde dann versucht, Methoden und Möglichkeiten zu entwickeln, die es erlauben, diese Strukturen von Untergruppen egal von welcher Art sozialen Systems offenzulegen, sofern dafür relationale Daten vorhanden oder verfügbar sind. Die mit dieser Strömung verbundenen Namen sind vor allem W. Lloyd Warner und Elton Mayo mit ihrer Untersuchung der Hawthorne Electrical Factory in Chicago und der Neuengland-Gemeinde Newburyport (von Warner Yankee City getauft). Insbesondere die Hawthorne Untersuchungen gelten heute als klassisches Beispiel einer Studie zu sozialem Verhalten und Interaktion. Deren Hauptergebnis war, dass die Produktivität der untersuchten Arbeiter unabhängig von äußeren Faktoren allein dadurch stieg, dass ihre Vorgesetzten ein Interesse an ihnen gezeigt haben und sie Teil einer wissenschaftlichen Untersuchung waren; das hervorgerufene Gefühl von Einbindung und Integration als Teil des Energiewerks reichten zur Produktivitätssteigerung aus. Für diese soziologische Untersuchung wurden u.a. Soziogramme verwendet, um die Gruppenstruktur und -dynamik zu erfassen, ähnlich der Aufzeichnung von Verwandtschaftsbeziehungen einer Dorfgemeinschaft mit einem Stammbaum; dies war auch das erste Mal, dass bei einer großen soziologischen Studie Soziogramme konkret auf real zu beobachtende Beziehungen in realen Situationen angewandt worden sind.

In den Untersuchungen von Yankee City durch Warner in den Jahren 1930 bis 1935 verknüpfte dieser die Erkenntnisse und Methoden aus den Hawthorne-Studien mit anthropologischen Methoden, wodurch er den Begriff der Clique weiter ausbaute. Nach Warner handelt es sich bei einer Clique um eine informelle Vereinigung von Menschen, die einen gewissen Grad (engl. degree) an Gruppengefühl und Vertrautheit aufweisen und in der sich bestimmte Normen und Verhaltensweisen etabliert haben. Dies meint vor allem auch eine Gruppe, die nicht auf Verwandtschaft beruht. Diese Clique bestimmt neben den familiären Beziehungen auch die Rolle/Stellung eines Individuums in der Gesellschaft. Die wohl bedeutendste Erkenntnis hieraus ist, dass die Stellung in einer Gesellschaft eben nicht nur einfach durch wirtschaftliche oder politische Rahmenbedingungen festgelegt ist, sondern vor allem durch diese informellen und personellen Beziehungen durch die ‚Mitgliedschaft‘ in Familie und Cliquen. Dazu kommt weiterhin, dass jede Person auch ‚Mitglied‘ in mehreren unterschiedlichen Cliquen sein kann, was wiederum dazu führt, dass solche sich überlappende Zugehörigkeiten zu einem einzigen Netzwerk von wechselseitigen Beziehungen (engl. interrelations) führt, in dem fast die gesamte Population einer Gesellschaft (und ihre Cliquen) verortet werden kann; dies ist auch eine der frühesten, wenn nicht sogar die früheste Verwendung von Netzwerkanalyse/-theorie-Fachbegriffen im heutigen Sinne und entsprechend bedeutsam. Kollegen*innen von Warner führten eine ähnliche Untersuchung in Natchez, Mississipi durch (genannt Old City), wodurch eine weitere Analysemethodik, die der Auflistung von Beziehungen in Tabellen (mathematisch: Matrizen), eingeführt und in der Folgezeit von George Homans verfeinert worden ist. Homans betrachtete auch die Qualität der einzelnen Beziehungen und deren ‚Richtung‘ (engl. direction), Häufigkeit (engl. frequency) und Intensität (engl. intensity), Konzepte die von der Manchester-Gruppe (vor allem Mitchell, s. nächsten Absatz) aufgenommen worden sind und heute zum Standard-Repertoire von Netzwerkanalysen gehören.

In den 1950ern und 160ern baute eine an der Manchester University beheimatete Gruppe am Department of Social Anthropology um John Barnes, Clyde Mitchell und Elizabeth Bott den Ansatz von sich überschneidenden Cliquen und Gruppen weiter aus, indem sie (Herrschafts-)Strukturen als Netzwerke von Beziehungen sahen und wie diese Beziehungen sich in oder durch Konflikte und Machtausübung entwickelt haben oder überhaupt entstanden sind. In dieser Tradition entwickelten sich weitere, heute zentrale Begriffe und Analyseaspekte heraus, vor allem, dass Beziehungen an sich in Netzwerken schon qualitative Unterschiede haben (und nicht nur eine einfache Verbindung zweier Personen/Gruppen/Orte/usw. anzeigen), sondern diese auch ‚multiplex‘ und ‚mehr-strängig‘ (engl. multi-stranded) sein und durch verschiedene Konzepte, welche die Qualität der Beziehung beschreiben, analysiert werden können. Dies sind: Wechselseitigkeit (engl. reciprocity), Intensität (engl. intensity) und Dauerhaftigkeit (engl. durability). Aufbauend auf Homans, können Beziehungen eine Richtung haben (man spricht auch von directed networks, s. Kapitel 2): findet z.B. ein Austausch statt, der von einer Person an die andere geht? Wenn ja, wie hoch ist der Grad (engl. degree) an Wechselseitigkeit (engl. reciprocity)? Ist eine Person allein der Geber, die andere der Nehmer oder geht von Nehmer etwas zurück vom Geber?

Zwischen 1940 und 1969 entstanden in den USA, aber auch in europäischen Ländern wie Frankreich, Schweden, UK und den Niederlanden, unabhängig voneinander 16 verschiedene Forschungszentren, die soziale Netzwerkuntersuchungen durchführten, aber alle verfolgten eine andere Form oder ein anderes Gebiet, auf dem sie diese Untersuchungen betrieben (von Soziologie über Linguistik, Geographie, Kommunikation, Psychologie bis hin zu mathematischer Biologie). In den 1960ern und 1970ern wurde dann der technische Aspekt (vor allem auch durch die Zunahme der Möglichkeit elektronischer Datenverarbeitung mithilfe von Computern) massiv ausgebaut und es entstanden immer mehr spezialisierte Anwendungen. Hier wurden auch die drei ursprünglichen Strömungen und die sich zwischenzeitlich ganz unterschiedlich entwickelnden Schwerpunkte in Form der vergleichenden sozialen Netzwerkanalyse zusammengebracht. Namentlich ist hier Harrison C. White hervorzuheben, der zusammen mit Student*innen an der Harvard University ein 17. Forschungszentrum für soziale Netzwerke gründete. White sah dabei die breite, allgemeine Anwendbarkeit (sprich auf mehrere Phänomene und im späteren Verlauf auch Fachrichtungen) des strukturellen Paradigmas von (sozialen) Netzwerken. Er schaffte es, eine ganze Generation von Studierenden davon zu begeistern, welche in der Folgezeit mit ihm (und später dann weiter selbstständig als Forscher*innen) viele grundlegende Theorien, methodische Ansätze und Studien fokussiert auf soziale Netzwerke entwickelten und publizierten, sodass Soziologen nicht mehr um dieses Konzept herum kamen und es sich bis Ende der 1970er in den Sozialwissenschaften auf breiter Fläche durchsetzen konnte. Vor allem wurden hierdurch die verschiedenen Strömungen gebündelt und Standard-Paradigmen und Methoden entwickelt, sodass SNA weithin als Forschungsfeld (in der Soziologie!) anerkannt wurde. Des Weiteren förderlich war die parallele, mathematische Entwicklung von Algebra-Modellen für die Graphentheorie, welche es ermöglichten, Verwandtschaftsbeziehungen und dergleichen mathematisch auszudrücken/zu modellieren und die Entwicklung von Techniken, um Beziehungen in soziale ‚Distanz‘ umzuwandeln, um diese wiederum in einem sozialen Raum (grafisch) darzustellen.

Eine wichtige Entwicklung für die Adaption von Netzwerkanalysen über die Soziologie hinaus war, dass in den späten 1990ern Physiker*innen ebenfalls über soziale Netzwerke zu publizieren begannen und sich dabei kaum auf die seit 60 Jahren veröffentlichte Literatur der Soziologen bezogen. Als Startpunkt kann man hier Duncan Watts und Steven Strogatz (1998), die das Konzept der ‚small world‘ eingeführt haben und Albert-Lásló Barabási und Réka Albert (1999), welche die Verteilung und den Grad von Zentralität untersucht haben (engl. centrality measurments), nennen. Dieses ‚Eindringen‘ in Forschungszweige der Soziologie führte zu gewissen Ressentiments den Physiker*innen gegenüber, wodurch beide Disziplinen kaum aufeinander Bezug nehmen. Dies wurde weiter dadurch gefördert, dass die Physiker*innen (vor allem Watts und Barabási) in hochkarätigen Fachjournals wie ‚Science‘ und ‚Nature‘ publizierten – mit entsprechend hoher Reichweite – und in der Folge wissenschaftliche Bestseller in Bezug auf Netzwerkwerkanalysen geschrieben haben. Entsprechend wurden auch weitere Physiker*innen auf Netzwerkanalysen aufmerksam, wodurch die ‚traditionellen‘ SNA betreibenden Forscher*innen geradezu marginalisiert worden sind. Dies führte aber zu zwei Dingen: erstens, dass eine Art ‚Revolution‘ in Bezug auf die Methoden (vor allem durch neue und erweiterte mathematische Konzepte) begann, zweitens Netzwerkanalysen jetzt auch eine breite Sichtbarkeit bekamen, wodurch andere Fachrichtungen auf deren Potential aufmerksam wurden. Wichtige methodische Neuerungen sind dabei die Bestimmung von Clustern bzw. eines Cluster-Koeffizienten (engl. clustering coefficient) und Pfad-Längen (engl. path lengths), um etwa den Grad (degree) der Vernetzung von Nachbarn zu bestimmen und Aussagen darüber zu treffen, wie wahrscheinlich es ist, dass z.B. der Freund eines Freundes auch mein Freund wird. Das zugrundeliegende Phänomen, das Kleine-Welt-Phänomen (engl. small world), ist bei weitem nicht neu gewesen und existierte schon seit den 1960ern in der Soziologie (Stanley Milgram). Neu jedoch ist die Verknüpfung von Personen-Clustern und individuellen Pfad-Längen von Personen-Paaren sowie die höhere Sichtbarkeit des Konzepts durch die Arbeit der Physiker*innen. Wie hoch diese Sichtbarkeit ist, sieht man z.B. daran gut, dass innerhalb von nur fünf Jahren zwischen 1999 und 2004 durch Physiker*innen mehr Publikationen zur ‚small world‘ entstanden sind als in 45 Jahren davor durch die Soziolg*innen (s. dazu auch Abb. 2). Durch die zunehmende Unterstützung von Computern und neu entwickelte Algorithmen (z.B. ‚betweenness‘) wurden nach und nach die einzelnen Ansätze und Konzepte aus der SNA der Soziologie überarbeitet oder aufgearbeitet, verfeinert und mit computergestützten Algorithmen versehen, sodass heute auch sehr große und komplexe Datensätze ausgewertet werden können.

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Abb. 2: Small World Publikationen 1950–2004. Physiker*innen sind als schwarze Punkte dargestellt (Freeman 2011, 30, Abb. 3.3.)