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Pariser Scholaren um 1200 als gewaltsame Akteure. Überlegungen zur Entstehung der Universität aus konfliktsoziologischer Perspektive

Die Stadtkultur als Konfiguration sozialer Räume

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Die These, dass die Konflikte mit Stadtbewohnern die Wahrnehmung einer Ingroup-Outgroup-Relation stimulierten, lenkt schließlich den Blick auf die Stadtkultur als Ensemble sozialer Gruppen. <footnote data-id="fn1" data-anchor="anmerkung1">[1]</footnote> Betrachtet man die konkreten Verhältnisse im Paris der Zeit um 1200 <footnote data-id="fn2" data-anchor="anmerkung2">[2]</footnote> , so wird deutlich, dass die Annahme, die Dynamik der stadtinternen Positionen und Differenzen impliziere unweigerlich das Aushandeln sozialer Identitäten, eng verbunden ist mit den Relationen zwischen sozialen Räumen. In einer städtischen Kultur der ‚Anwesenheitskommunikation‘ <footnote data-id="fn3" data-anchor="anmerkung3">[3]</footnote> sind es insbesondere performativ produzierte ‚Räume‘, in deren Anordnung sich die Struktur der sozialen Positionen innerhalb der Stadt manifestiert. Paris war seit Ludwig VI. nicht nur Hauptresidenz der französischen Könige <footnote data-id="fn4" data-anchor="anmerkung4">[4]</footnote> , sondern durch rasantes Wachstum auch gesellschaftlich auf rapide Weise komplexer geworden ‒ eine Entwicklung, die, folgt man Luhmann, das Konfliktpotential zwangsläufig erhöht. <footnote data-id="fn5" data-anchor="anmerkung5">[5]</footnote> Damit einhergehend hatte sich die Sozialtopographie von Paris in so hohem Maße diversifiziert, dass sich die Konstituierung eines Raums der Magister und Scholaren innerhalb einer Pluralität von sozialen Räumen vollzog, die durch die gemeinsame Zugehörigkeit zu einem übergreifenden Stadt-Raum notwendig aufeinander bezogen wurden. Neben dem königlichen Hof, den Klöstern, Stiften und Pfarrkirchen oder den städtischen Residenzen weltlicher und geistlicher Großer waren es vor allem die bereits im 12. Jahrhundert als kollektive Akteure auftretenden Gewerbe, welche die soziale Vielfalt ausmachten, innerhalb derer sich die Schulen zu positionieren hatten. <footnote data-id="fn6" data-anchor="anmerkung6">[6]</footnote> Man kann sich leicht vorstellen, dass die Stadtmauer, die Philipp II. neben anderen fortifikatorischen Bauten seit dem späten 12. Jahrhundert errichten ließ, die Perzeption eines geschlossenen urbanen Raums wesentlich beförderte und damit dazu beitrug, die städtischen Teilräume noch stärker zueinander in Beziehung zu setzen. <footnote data-id="fn7" data-anchor="anmerkung7">[7]</footnote>

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Betrachtet man Raum nicht als physische Gegebenheit, sondern als „Produkt sozialer Praxis“ <footnote data-id="fn8" data-anchor="anmerkung8">[8]</footnote> , so erschießt sich die performative und diskursive Segmentierung des Pariser Stadt-Raums als jener Vorgang, den Pierre Bourdieu als ‚Aneignung‘ des physischen Raums bezeichnet hat. <footnote data-id="fn9" data-anchor="anmerkung9">[9]</footnote> Damit wird aber zugleich deutlich, dass soziale Räume keine fixierten Entitäten sind, sondern erst durch Prozesse des Aushandelns generiert werden. Es ist klar, dass insbesondere Konflikten dabei eine Schlüsselrolle zufällt. <footnote data-id="fn10" data-anchor="anmerkung10">[10]</footnote> Geht man davon aus, dass gerade die antagonistischen Relationen zu einer reziproken Profilierung sozialer Räume beitragen, so ließe sich annehmen, dass die Konflikte der Scholaren gleichsam Raumansprüche artikulieren. Man könnte sich fragen, ob das aggressive Verhalten der Studenten, ihr Auftreten als gewaltsame Akteure, in diesem Sinne als eine Art ‚Reviermarkierung‘ zu sehen ist, als eine Manifestation von Ansprüchen auf sozialen Raum, der ihnen von ihrer grundsätzlich feindlichen Umwelt nicht zuerkannt und gegebenenfalls streitig gemacht wurde.
 

Anmerkungen

<footnote data-id="anmerkung1" data-anchor="fn1">[1]</footnote> Zum Begriff der sozialen Gruppe siehe auch allgemein: Bernhard Schäfers (Hrsg.): Einführung in die Gruppensoziologie. Geschichte – Theorien – Analysen, 2. Aufl., Heidelberg 1994.

<footnote data-id="anmerkung2" data-anchor="fn2">[2]</footnote> Zu Paris um 1200 allgemein: John W. Baldwin: Paris, 1200, Paris 2006.

<footnote data-id="anmerkung3" data-anchor="fn3">[3]</footnote> Maria Selig: Anwesenheitskommunikation und Anwesenheitsgesellschaft. Einige Anmerkungen zu einem geschichtswissenschaftlichen Konzept aus sprachwissenschaftlicher Perspektive, in: Städtische Räume im Mittelalter, hrsg. von Susanne Ehrich und Jörg Oberste, Regensburg 2009, S. 17‒33.

<footnote data-id="anmerkung4" data-anchor="fn4">[4]</footnote> Andreas Sohn: Von der Residenz zur Hauptstadt. Paris im hohen Mittelalter, Ostfildern 2012, S. 57.

<footnote data-id="anmerkung5" data-anchor="fn5">[5]</footnote> Niklas Luhmann, Konfliktpotentiale in sozialen Systemen, in: Der Mensch in den Konfliktfeldern der Gegenwart, hrsg. von der Landeszentrale für politische Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen, Köln 1975, S. 65‒74, hier S. 67.

<footnote data-id="anmerkung6" data-anchor="fn6">[6]</footnote> Zu den Gewerben: Jacques Boussard: Nouvelle histoire de Paris. De la fin du siège de 885‒886 à la mort de Philippe Auguste, Paris 1997, S. 164 u. 168; Anne Lombard-Jourdan: Aux origines de Paris. La Genèse de la rive droite jusqu’en 1223, Paris, 1985, S. 95f; vgl. auch Jean Favier: Le bourgeois de Paris au moyen âge, Paris 2012, S. 56f.

<footnote data-id="anmerkung7" data-anchor="fn7">[7]</footnote> Zu den Initiativen Philipps II.: Anne Lombard-Jourdan: Aux origines (wie Anm. 6), S. 75‒81; zur Reflexion des Mauerbauprojekts bei den Zeitgenossen: John W. Baldwin: Masters, Princes and Merchants. The social views of Peter the Chanter and his Circle, Bd. 1, Princeton 1970, S. 71.

<footnote data-id="anmerkung8" data-anchor="fn8">[8]</footnote> Markus Schroer: Soziologie, in: Raumwissenschaften, hrsg. von Stephan Günzel, Frankfurt am Main 2009, S. 354‒369, hier S. 354; zum Raum als ‚relationaler (An)Ordnung‘: Martina Löw: Raumsoziologie, 7. Aufl., Frankfurt am Main 2012.

<footnote data-id="anmerkung9" data-anchor="fn9">[9]</footnote> Pierre Bourdieu: Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, in: Stadt-Räume, hrsg. von Martin Wentz, Frankfurt am Main 1991, S. 25‒34.

<footnote data-id="anmerkung10" data-anchor="fn10">[10]</footnote> Dazu allgemein: Christoph Dartmann, Marian Füssel und Stefanie Rüther (Hgg.): Raum und Konflikt. Zur symbolischen Konstituierung gesellschaftlicher Ordnung in Mittelalter und früher Neuzeit, Münster 2004.