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Editionstypen

In den bisherigen Ausführungen war noch ganz allgemein von "Editionen" bzw. "Quelleneditionen" die Rede, ohne dies weiter zu spezifizieren. In der Praxis haben sich jedoch unterschiedliche Typen von Editionen herauskristallisiert, die es im Folgenden zu differenzieren und charakterisieren gilt.

Die historisch-kritische Edition

Als editorische "Königsdisziplin" gilt nach wie vor die Erarbeitung einer historisch-kritischen Edition. Sie wurde im 19. Jahrhundert "erfunden" und hat bis heute den Anspruch, der wissenschaftlich maßgebliche Editionstypus zu sein. Von einer historisch-kritischen Quellenedition spricht man, wenn die Quelle nicht unkritisch wiedergegeben, sondern nach bestimmten textkritischen und editionstechnischen Grundsätzen erschlossen und von Fehlern bereinigt präsentiert wird. Historisch-kritische Editionen kennzeichnet das Ziel, den "richtigen" Text zu (re)konstruieren. Sie streben danach, sämtliche Materialien über die zu edierende Quelle zu sichten, den historischen Entstehungsprozess der Quelle zu rekonstruieren und sie für den Nutzer in nachvollziehbarer Weise verfügbar zu machen. Sie weisen in der Regel die acht im Abschnitt "Begriffsbestimmung – Aufgaben – zentrale Inhalte" genannten Bestandteile bzw. Charakteristika auf.

Die kritische Komponente bezieht sich insbesondere auf die Textkritik, wie zum Beispiel die Prüfung der Echtheit und die Fehlersuche, ferner auf die Sichtung und Auswahl der Überlieferung, die Konstitution eines definitiven Editionstextes samt Aufführung von Varianten sowie die Dokumentation der Textgenese im wissenschaftlichen Apparat (im Sinne von "Ausstattung": Kopfregest, Varianten, Text- und Sachanmerkungen, Quellen- und Literaturhinweise usw.). Hinzu kommt bei einigen Editionen der Abdruck von Materialien zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte (vgl. Plachta, Editionswissenschaft, 2006, S. 14f).

Charakteristisch für historisch-kritische Editionen ist der umfassende Anspruch, die betreffenden Quellen letztgültig ediert zu haben. Zwei Beispiele für historisch-kritische Editionen aus dem Bereich der Geschichtswissenschaft finden sich im Abschnitt "Aus der editorischen Praxis: Zwei Fallbeispiele".

Die wissenschaftliche Studienausgabe

Wissenschaftliche Studienausgaben sind Editionen, die in einigen Fällen direkt von einer historisch-kritischen Ausgabe abgeleitet sind. Diese "kleinen" Editionen weisen zumeist nicht den umfangreichen wissenschaftlichen Apparat der historisch-kritischen Ausgabe auf, sondern einen verschlankten Apparat. Sie sind preisgünstiger und erheben nicht den Anspruch auf Vollständigkeit wie die historisch-kritischen Editionen. Ihr Hauptaugenmerk liegt auf der Präsentation eines gesicherten Textes. Sie richten sich nicht vornehmlich an den Spezialisten, sondern an ein breiteres Publikum. Ein Beispiel dafür sind die von Richard Dietrich bearbeiteten "Politischen Testamente der Hohenzollern", die sowohl in einer gebundenen historisch-kritischen Ausgabe (1986) als auch in einer preiswerteren Taschenbuchausgabe (1981) publiziert worden sind (vgl. Dietrich, Testamente, 1981 bzw. 1986). Es gibt allerdings auch Studienausgaben, die nicht auf historisch-kritische Editionen zurückgehen und ihrerseits bisweilen editorische Pionierarbeit leisten.

Die Volks- und Leseausgabe

Auch Volks- und Leseausgaben sind, ähnlich wie die Studienausgabe, oftmals Derivate der teuren und aufwendigen historisch-kritischen Editionen und dienen der Popularisierung eines Textes. Sie haben also andere Adressaten als die historisch-kritischen Editionen. Volks- und Leseausgaben verzichten in aller Regel ganz auf Anmerkungsapparate und weisen eine erhöhte Lesefreundlichkeit auf, die vor allem durch eine modernisierte Orthografie des Textes erreicht werden soll.

Die Regestenedition

Regesteneditionen sind eine editorische Form, die eine Lösung des fundamentalen Problems der Erschließung großer Massen an Quellen bietet. Ausgangspunkt ist zumeist der Befund, dass Quellen aufgrund ihrer großen Anzahl, ihres Umfangs oder auch aus Kostengründen nicht vollständig nach wissenschaftlichen Maßstäben ediert werden können. Man behilft sich in diesem Fall mit einer Beschränkung und systematischen Erschließung in Form eines Regestes, das fundamentale Information zu der jeweils regestierten Quelle enthält. Hierzu zählen die inhaltliche Zusammenfassung der Quelle, Informationen über ihre Überlieferung, den Verfasser, die Entstehungszeit und den Entstehungsort sowie Hinweise auf bereits vorliegende Drucke (vgl. ausführlicher den Abschnitt "Begriffsbestimmung – Aufgaben – zentrale Inhalte"). Der Vorteil einer Regestenedition ist die Möglichkeit, auch für große, oftmals nicht edierte Quellencorpora, wie zum Beispiel umfangreiche Briefwechsel, wissenschaftliche Erschließungsmöglichkeiten bereitzustellen. Der Nachteil ist der Verzicht auf den Abdruck des eigentlichen Quellentextes. Ein bekanntes Beispiel aus dem Bereich der Geschichtswissenschaft sind die von dem Frankfurter Stadtbibliothekar Johann Friedrich Böhmer (1795-1863) initiierten "Regesta Imperii".

Die Faksimile-Edition

Faksimile-Editionen (nach lateinisch "fac simile" = "mache es ähnlich") beschränken sich auf die fotomechanische bzw. digitale Reproduktion der Originalquelle. Sie können ganz unterschiedlichen Bedürfnissen entspringen, darunter 1.) dem Interesse an der Handschrift bedeutender Persönlichkeiten; 2.) dem Wunsch, die handschriftliche Quelle in einer möglichst ungefilterten, durch den Editor nicht bearbeiteten Weise "authentisch" vor sich zu sehen; 3.) der Absicht, edierte Texte anhand des Faksimiles auf ihre Richtigkeit hin überprüfen zu können, ohne dafür das entsprechende Archiv aufsuchen zu müssen; 4.) dem Versuch, einer physischen Zerstörung der Quelle durch Generierung eines Faksimiles vorzubauen und sie damit zu "sichern". Nachteile von Faksimile-Editionen sind in der Regel ihr hoher Preis, ferner die bisweilen schwere Lesbarkeit der faksimilierten handschriftlichen Quelle sowie die fehlenden Rekonstruktions- und Serviceleistungen, die zum Beispiel eine historisch-kritische Edition aufzuweisen hat.

In der Forschung ist umstritten, ob es sich bei Faksimile-Editionen überhaupt um eine Edition, wie sie eingangs definiert wurde (vgl. den Abschnitt "Begriffsbestimmung – Aufgaben – zentrale Inhalte"), handelt. Diesem Dilemma wird von editorischer Seite zum Teil entgegengesteuert, indem man zumindest eine Transkription des faksimilierten Textes hinzufügt. Ein Beispiel aus dem Bereich der Geschichtswissenschaft ist die von Heinz Duchhardt und Franz-Josef Jakobi im Jahr 1996 herausgegebene Faksimile-Edition des Münsterschen Exemplars des am 24. Oktober 1648 in Münster unterzeichneten Friedensvertrags zwischen Kaiser/Reich und Frankreich, des "Instrumentum Pacis Monasteriensis" (vgl. Duchhardt/Jakobi (Hrsg.), Der Westfälische Frieden, 1996).

Die retrodigitalisierte Edition

In jüngerer Zeit wächst die Tendenz, bereits in Buchform gedruckte Editionen als elektronische Volltexte oder digitale Abbildungen im Internet oder als CD-ROM bereitzustellen. Retrodigitalisierte gedruckte Editionen, die lediglich ihre Bände als Bilddigitalisate verfügbar machen, zum Beispiel als "Portable Document Format" (PDF), sind allerdings keine "digitale Editionen" im engeren Sinne. Die Forschung spricht stattdessen von "digitalisierten Editionen" (vgl. Sahle, Editionsformen, 2013, Bd. 2, S. 58f). Einige editorische Großunternehmen beschreiten indes bereits den Weg von der bloßen Retrodigitalisierung hin zu Editionsformen, die Funktionen "digitaler Editionen" aufweisen. Beispiele dafür sind die "Monumenta Germaniae Historica" und die "Acta Pacis Westphalicae" (vgl. den Abschnitt "Aus der editorischen Praxis: Zwei Fallbeispiele") sowie die Leibniz-Edition (vgl. Gädeke, Dinosaurier, 2005).