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Fachinformationsräume im Internet

Das World Wide Web verfügt im Gegensatz zum Printsystem in der analogen Welt nicht über ein abgestuftes Kontrollsystem, welches die Publikationsmöglichkeiten, Erschließung und dauerhafte Archivierung der Veröffentlichungen regelt. Zwar sind die Akteuren des analogen Fachinformationssystems –Verlage, Bibliotheken, wissenschaftliche Forschungseinrichtungen – auch im WWW präsent, doch verhindern die Besonderheiten des Mediums bislang erfolgreich eine 1:1-Übernahme des analogen Systems.

  • Das WWW als Quartärmedium: Das Hypertextsystem WWW wurde von seinem Erfinder Tim Berners-Lee als interaktives Publikationsmedium angelegt. Jeder sollte weltweit publizieren können; erforderlich sind lediglich etwas Speicherplatz auf einem Server sowie die Umwandlung einer Textdatei in ein HTML-Dokument. Noch einfacher wird die digitale Publikation im sogenannten „Web 2.0“. Dieser Begriff suggeriert eine technische Änderung der WWW-Grundlagen, die jedoch nie stattfand: Stattdessen stellen Unternehmen, die den Wert von Nutzer generiertem Inhalt erkannt haben, Speicherplatz auf Webservern sowie leicht zu bedienende Editoren zur Verfügung. Auf diesem Weg können auch wenig technikaffine Webnutzer im Netz publizieren, denen die Anwendung der Seitenbeschreibungssprache HTML bislang zu kompliziert erschien.
    Diese Möglichkeit des individuellen Publizierens stellt einen besonderen Vorteil, aber zugleich auch ein infrastrukturelles Problem des WWW dar: Es gibt keinen Verlag, der die Publikationen selektiert. Eine Trennung zwischen wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Publikationen findet somit nicht statt. Ob ein Inhalt wissenschaftlichen Standards entspricht oder nicht, muss der Rezipient im WWW selbst entscheiden.

  • Das WWW als multifunktionales Medium: Eine Website kann die Funktion einer Printpublikation übernehmen, indem sie einen linearen Text abbildet. Die Website muss jedoch nicht auf diese Funktion begrenzt bleiben. Sie kann andere elektronische Massenmedien wie Hörfunk oder Fernsehen imitieren oder einen Schritt weiter gehen und neue multimediale, sowie interaktive Formate enthalten. Eine Website muss zudem nicht unbedingt über eigene Inhalte verfügen, sie kann auch auf externe Informationen verweisen.
    Diese Multifunktionalität erschwert dem User die Evaluierung von Webangeboten erheblich, denn zur Beurteilung digitaler Publikationen sind andere Kriterien erforderlich als zur Bewertung von Büchern: Das Buch ist formal standardisiert, Angaben auf dem Titelblatt sind ebenso vorgegeben wie die Form von Referenzen, Quellen- und Literaturangaben. Für Internetangebote hingegen gibt es nur technische Standards und keine formalen oder inhaltlichen Vorgaben; zudem können die Inhalte jederzeit leicht verändert, überarbeitet oder gar gelöscht werden. Die Vorgabe aus dem Printbereich können somit nicht einfach auf digitale Publikationen übertragen werden.

  • Das Internet als verteiltes Netzwerk: Auch die Hardwarestruktur des Internets verhindert den Aufbau eines digitalen Fachinformationsraums. Aus Gründen der Netzstabilität und zur effektiveren Nutzung der Übertragungsleitungen wurde die Vernetzung der Rechner im Internet als „distributed network“ aus vielen Subnetzen mit zahlreichen redundanten Verbindungswegen angelegt. Eine zentrale Kontrolle über bestimmte Teile des Netzes ist somit unmöglich, gleichzeitig wird so eine laufende und vollständige Erfassung aller neuen fachrelevanten Publikationen mit einfachen technischen Mitteln verhindert.

Die fehlende Infrastruktur zur umfassenden Erschließung neuer Veröffentlichungen ist nach wie vor das größte Problem bei der wissenschaftlichen Internetnutzung. User müssen auch heute noch häufig selbst „die Spreu vom Weizen trennen“, wie Wilfried Enderle schon 2001 feststellte.[1] Fehlende Sekundärkriterien und noch nicht ausreichend standardisierte Beschreibungskriterien für genuin digitale Inhalte erschweren zudem die anschließende Qualitätsbeurteilung.

Ein zusammenhängender Fachinformationsraum, der eine zuverlässige Erschließungs- und Orientierungsleistung für alle fachlich relevanten Websites bietet, wird ein Desiderat bleiben. Dennoch finden sich bereits zahlreiche Fachinhalte im WWW, das Spektrum reicht von bibliographischen Datenbanken über Verbundkataloge bis zu retrodigitalisierten Texten und Bildern. Diese Daten werden jedoch von verschiedenen Akteuren im Netz angeboten, wobei weder ein verbindliches Datenbankmodell für eine standardisierte Aufbereitung der Inhalte sorgt noch eine zentrale Institution die Angebote koordiniert. Metasuchmaschinen, die auf variierende, nach unterschiedlichen Kriterien ausgewählte Datenbestände zugreifen, vergrößern die Komplexität des digitalen Suchraums zusätzlich. Folglich finden sich zahlreiche redundante Datenbestände, während andere Informationen, wie z.B. selten nachgefragte Texte, nach wie vor nur im analogen Suchraum verfügbar sind.

Die Vielschichtigkeit des digitalen Suchraums stellt neue Anforderungen an die Informationsbeschaffungskompetenz der Studierenden und Wissenschaftler. Einerseits müssen sie sich in beiden Suchräumen orientieren können, andererseits ist das Suchergebnis in hohem Maße abhängig vom Orientierungswissen des einzelnen Suchenden. Je nach Wissen über verschiedenen Suchwerkzeuge, Datenbanken oder Operatoren zur Suchmodifikation kann die gefundene Literaturbasis sehr unterschiedlich ausfallen. Damit die intersubjektive Überprüfbarkeit des Suchergebnisses gewahrt bleibt, ist es daher notwendig, die eigene Recherche – d.h. Ressourcen, genutzte Suchwerkzeuge sowie die Formulierung der Suchanfragen – zu dokumentieren. [2]
 

Anmerkungen

[1] Wilfried Enderle: Der Historiker, die Spreu und der Weizen. Zur Qualität und Evaluierung geschichtswissenschaftlicher Internetressourcen, in: Geschichte und Informatik = Histoire et Informatique, hrsg. von Peter Haber, Christophe Koller, Gerold Ritter, Bd. 12, 2001, S. 38-53.  

[2] Stefanie Krüger: Die Erschließung digitaler und analoger Suchräume. Anforderungen an heuristische Verfahren, in: Geschichte und Informatik = Histoire et Informatique, Bd. 15, 2004, S. 91-105, hier S: 103f.