zum Inhalt springen

Arbeiten mit Quellen

 „Warum brennst du, Konsument?“ –
Flugblatt Nr. 7 der Kommune 1 (24. Mai 1967)

Silke Mende

1. Einleitung 

Im kommenden Jahr feiert "1968" vierzigjähriges "Dienstjubiläum" <footnote data-anchor="anmerkung1" data-id="fn1" id="fn1">[1]</footnote>. Das mythenumwobene Jahr steht nicht nur als Chiffre für die Zeit von Außerparlamentarischer Opposition und Studentenbewegung, sondern wird von der zeithistorischen Forschung wahlweise als Ausgangspunkt, Katalysator oder gar Endpunkt tieferliegender gesellschaftlicher Wandlungsprozesse der Zweiten Nachkriegszeit interpretiert. <footnote data-anchor="anmerkung2" data-id="fn2" id="fn2">[2]</footnote> Im Folgenden soll anhand eines Quellendokumentes eine Gruppe innerhalb der 68er-Bewegung näher betrachtet werden. Es handelt sich um die Westberliner Kommune 1 und ihr am 24. Mai 1967 verteiltes Flugblatt Nr. 7, "Warum brennst du, Konsument?".

Inwiefern ist es charakteristisch für Ziele, Protestformen und Tendenzen der westdeutschen 68er-Bewegung?

 

2. Quelle und Editionen 

Quelle: Abbildung 

Über den Flugblatttext ist die Ziffer 7 gezeichnet.
Kopie des Flugblattes Nr. 7 der Kommune 1 vom 24. Mai 1967


Quelle: Abschrift 

NEU ! UNKONVENTIONELL ! NEU! UNKONVENTIONELL! NEU UNKONVENTIONELL!
Warum brennst du, Konsument?
NEU ! ATEMBERAUBEND ! NEU! ATEMBERAUBEND! NEU! ATEMBERAUBEND!

Die Leistungsfähigkeit der amerikanischen Industrie wird bekanntlich nur noch vom Einfallsreichtum der amerikanischen Werbung übertroffen: Coca Cola und Hiroshima, das deutsche Wirtschaftswunder und der vietnamesische Krieg, die Freie Universität und die Universität von Teheran sind die faszinierenden und erregenden Leistungen und weltweit bekannten Gütezeichen amerikanischen Tatendranges und amerikanischen Erfindergeists; weben diesseits und jenseits von Mauer, Stacheldraht und Vorhang für freedom und democracy. 

Mit einem neuen gag in der vielseitigen Geschichte amerikanischer Werbemethoden wurde jetzt in Brüssel eine amerikanische Woche eröffnet: ein ungewöhnliches Schauspiel bot sich am Montag den Einwohnern der belgischen Metropole: 

Ein brennendes Kaufhaus mit brennenden Menschen vermittelte zum erstenmal in einer europäischen Grossstadt jenes knisternde Vietnamgefühl (dabeizusein und mitzubrennen), das wir in Berlin bislang noch missen müssen. 

Skeptiker mögen davor warnen, 'König Kunde', den Konsumenten, den in unserer Gesellschaft so eindeutig Bevorzugten und Umworbenen, einfach zu verbrennen. 

So sehr wir den Schmerz der Hinterbliebenen in Brüssel mitempfinden: wir, die wir dem Neuen aufgeschlossen sind, können, solange das rechte Mass nicht überschritten wird, dem Kühnen und Unkonventionellen, das, bei aller menschlichen Tragik im Brüsseler Kaufhausbrand steckt, unsere Bewunderung nicht versagen.  

Auch der Umstand, dass man dieses Feuerwerk Anti-Vietnam-Demonstarnten andichten will, vermag uns nichtbirrezuführen. Wir kennen diese weltfremden jungen Leute, die immer die (Plakate) von gestern tragen, und wir wissen, dass sie trotz aller abstrakten Bücherweisheit und romantischer Träumereien noch immer an unserer dynamisch-amerikanischen Wirklichkeit vorbeigegangen sind. 

Kommune I (24.5.1967) 

 

Editionen 

Von den zahlreichen Veröffentlichungen und Wiederabdrucken seien beispielhaft erwähnt: 

  • Flugblatt Nr. 7 (24.5.1967), in: Rainer Langhans/Fritz Teufel, Klau mich, unveränderte Neuauflage, München, Trikont Verlag, 1977 (zuerst: Frankfurt am Main, Edition Voltaire, 1968), o. S. 

  • Flugblatt Nr. 7, in: Karl A. Otto, APO. Außerparlamentarische Opposition in Quellen und Dokumenten (1960-1970), Köln, Pahl-Rugenstein, 1989, S. 188.

3. Informationen zum Quellendokument 

Die Verfasser 

Die Kommune 1 <footnote data-anchor="anmerkung3" data-id="fn3" id="fn3">[3]</footnote> – vermutlich Deutschlands bekannteste Wohngemeinschaft – wird aus der Rückschau zunächst meist mit einem Bilddokument in Verbindung gebracht: Ein Schwarz-Weiß-Foto, auf dem die Kommunarden nackt posieren – wohl bemerkt dem Betrachter den Rücken zuwendend – zierte das Titelblatt der Spiegel-Ausgabe vom 26. Juni 1967. <footnote data-anchor="anmerkung4" data-id="fn4" id="fn4">[4]</footnote> Paradigmatisch spiegelt dieses Bild das Selbstverständnis der Gruppe wider: Die Kommunarden propagierten "lustbetonten Antiautoritarismus" <footnote data-anchor="anmerkung5" data-id="fn5" id="fn5">[5]</footnote> und suchten durch die Verknüpfung von sexueller Libertinage und gemeinsamen politischen Aktionen die Trennung von "privat" und "politisch" aufzuheben.

Nach einem längeren Diskussionsprozess hatte sich die Kommune 1 an Neujahr 1967 in West-Berlin konstituiert. Zu den bekanntesten Bewohnern der Gruppe, deren Zusammensetzung häufig wechselte, gehörten Dieter Kunzelmann, Fritz Teufel und Rainer Langhans. 

Den Kommunarden ging es nicht nur um das Experimentieren mit anti-bürgerlichen Wohn- und Lebensformen, sondern auch um die Entwicklung neuer Protest- und Aktionsmöglichkeiten, in deren Mittelpunkt Spaß, Provokation und Satire standen. Ihre Flugblätter spiegeln dieses Politikverständnis beispielhaft wider. 

Der Quellentypus Flugblatt 

Flugblätter sind kein Novum der Zeitgeschichte, sondern ebenfalls für frühere Epochen, insbesondere die Geschichte der Frühen Neuzeit, als Quelle von großer Bedeutung. Für die Geschichte der Studenten- und Alternativbewegung der sechziger und siebziger Jahre genießen Flugblätter als Quellendokumente hohen Stellenwert. Sie gehören in den Zusammengang einer sich seit den frühen 1960er Jahren entwickelnden Gegenöffentlichkeit, deren Produkte von Veröffentlichungen linker Kleinverlage über die Alternativpresse bis hin zu Broschüren und eben Flugblättern reichten. <footnote data-anchor="anmerkung6" data-id="fn6" id="fn6">[6]</footnote> Unabdingbar für die Erfolgsgeschichte des Flugblatts jener Zeit ist die zunehmende Verfügbarkeit von handlichen und verhältnismäßig kostengünstigen Druckmaschinen. Auch die Kommune 1 besaß ein eigenes Gerät, mit dem sie ihre Veröffentlichungen in hoher Stückzahl, zu geringem Preis und ohne großen Aufwand in den eigenen vier Wänden produzieren konnte. <footnote data-anchor="anmerkung7" data-id="fn7" id="fn7">[7]</footnote>

Zeitpunkt und Umstände der Entstehung des Dokuments 

Das vorliegende Flugblatt Nr. 7 der Kommune 1 entstammt einer Serie von insgesamt neun Flugblättern, die im April/Mai 1967 entstanden und verteilt worden sind. Die erste "Halbserie", Flugblätter Nr. 1 bis 5, wurde im April 1967 verfasst und hatte vor allem hochschulpolitische Themen zum Gegenstand. Die Kommune hatte sie ohne vorherige Rücksprache pauschal mit "SDS" unterzeichnet, weshalb der Sozialistische Deutsche Studentenbund sie von ihrer Mitgliedschaft suspendierte. Die zweite "Halbserie", Flugblätter 6 bis 9, stammt von Ende Mai 1967 und nimmt den Brand in einem Brüsseler Kaufhaus zum Anlass, beißende Gesellschaftskritik zu üben. Flugblatt Nr. 7 ist Teil dieser zweiten Reihe und wurde am 24. Mai 1967 an der FU Berlin verteilt. <footnote data-anchor="anmerkung8" data-id="fn8" id="fn8">[8]</footnote>

Kontext 

Anlass und Aufhänger des Flugblattes ist der Großbrand in dem Brüsseler Großkaufhaus "A l’Innovation", bei dem am 22. Mai 1967 mehrere hundert Menschen ums Leben gekommen sind. Der Brand ereignete sich während einer so genannten "amerikanischen Woche", die den Verkauf US-amerikanischer Produkte beworben hatte. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Flugblattes war die Ursache des Brandes noch nicht geklärt. Da Brandstiftung nicht ausgeschlossen werden konnte und es im Umfeld der "amerikanischen Woche" immer wieder zu Protesten aus der Studenten- und Anti-Vietnamkriegsbewegung gekommen war, wurde schnell über einen möglichen Brandanschlag aus diesem Umfeld diskutiert. 

Über diesen konkreten Zusammenhang hinaus ist die Entstehung von Flugblatt Nr. 7 im Kontext von APO und westdeutscher 68er-Bewegung zu sehen, die ihre Hochzeit zwischen 1967 und 1969 hatte und ihr lokales Zentrum in West-Berlin fand. Die Veröffentlichung des Flugblattes liegt zeitlich vor anderen prominenten Ereignissen der Protestchronik, wie dem Tod Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967 oder dem Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April 1968. Die Flugblattaktion der Kommune 1 und der in ihrer Folge eröffnete Prozess des Berliner Landgerichts gegen die Verfasser erregten bundesweite Aufmerksamkeit und können damit zu den ersten herausragenden Medienereignissen von "1968" gezählt werden. <footnote data-anchor="anmerkung9" data-id="fn9" id="fn9">[9]</footnote>

4. Interpretation 

Kurze Inhaltsangabe 

Das Dokument ist im Stil eines Werbeflugblattes gehalten und bedient sich ebenfalls dessen typischer Sprache, was bereits in den fortlaufend wiederholten Titelzeilen deutlich wird: "Neu! Unkonventionell!"; "Neu! Atemberaubend!" 

Der einführende Abschnitt singt ein vermeintliches Loblied auf die "Leistungsfähigkeit der amerikanischen Industrie" und den "Einfallsreichtum der amerikanischen Werbung", um dann im Hauptteil auf ein spezielles Ereignis einzugehen: den Brand in einem Brüsseler Kaufhaus. Dieser wird als "neuer Gag in der vielseitigen Geschichte amerikanischer Werbemethoden" und "ungewöhnliches Schauspiel" bezeichnet, welcher dem europäischen Betrachter die unmittelbare Teilhabe am "knisternden Vietnam-Gefühl" erlaube. 

In den beiden letzten Absätzen wird ein scheinbar positives Fazit des Brandes gezogen: Trotz "aller menschlichen Tragik" und des "Schmerzes der Hinterbliebenen" könne man dem "Kühnen und dem Unkonventionellen" des Kaufhausbrandes seine "Bewunderung nicht versagen". 

Satire als Protestform 

Die bei Quelleninterpretationen obligatorische Inhaltsangabe ohne interpretatorische Vorwegnahmen hat sich im vorliegenden Fall als nicht ganz einfach herausgestellt, was auf ein zentrales Charakteristikum des Dokumentes zurückzuführen ist: Das Flugblatt bedient sich der Ironie und der Verfremdung und muss deshalb als Satire betrachtet werden. Vorgeblich als Werbeflugblatt gestaltet, ist es in der zeitgenössischen Marketingsprache verfasst, um in ironischer Form Kritik am Vietnamkrieg sowie den Ausprägungen von moderner Konsumgesellschaft und Populärkultur zu üben. Für den zeitgenössischen Betrachter war es jedoch klar als politisches Flugblatt erkennbar. 

Das Dokument ist damit ein charakteristisches Beispiel für Aktionsformen und Protestkultur eines Teils der westdeutschen 68er-Bewegung, an dessen Spitze die Kommune 1 mit ihren Aktionen stand. Die von der Kommune 1 propagierten Protest- und Politikformen unterschieden sich nicht nur vom Politikstil der bundesdeutschen Mehrheitsgesellschaft der 1950er und 1960er Jahre, sondern ebenfalls von den Aktionsformen, die bis dato in der jugendlichen und studentischen Demonstrationskultur vorgeherrscht hatten. Spaß und Satire sollten an die Stelle der "immergleichen, freudlosen Demonstrationsmärsche" <footnote data-anchor="anmerkung10" data-id="fn10" id="fn10">[10]</footnote> und der oftmals endlos langen und von großer Ernsthaftigkeit geprägten politischen Diskussionen treten, wie sie etwa für den SDS charakteristisch waren. "Revolution muß Spaß machen!" <footnote data-anchor="anmerkung11" data-id="fn11" id="fn11">[11]</footnote> lautete stattdessen das Motto der Kommunarden.

Die Kommune 1, so der Literaturhistoriker Klaus Briegleb, läutete damit die Phase einer "kunstnahen, ‚surrealistischen’ Revolte" innerhalb der westdeutschen Studentenbewegung ein. <footnote data-anchor="anmerkung12" data-id="fn12" id="fn12">[12] </footnote>Ihr Proteststil orientierte sich an ähnlichen Aktionsformen von Vorgängerbewegungen, wie der "Situationistischen Internationalen", einer europaweit vernetzten Gruppe linker Künstler und Intellektueller, die an der Schnittstelle von Kunst und Politik agierten. <footnote data-anchor="anmerkung13" data-id="fn13" id="fn13">[13]</footnote>

Vietnamkrieg und Amerikakritik 

Im inhaltlichen Zentrum des Flugblattes steht die Kritik am Vietnamkrieg, der seit dem direkten Kriegseintritt der Amerikaner im März 1965 eines der Hauptthemen der westdeutschen 68er-Bewegung bildete. Darüber hinaus waren die Anti-Vietnamkriegs-Proteste ein integrierendes und vernetzendes Moment der einzelnen nationalen Oppositionsbewegungen, die "1968" zu einem transnationalen Ereignis machten. 

Jedoch betrachtet das Flugblatt den Vietnamkrieg nicht als isoliertes Ereignis, sondern verknüpft ihn mit anderen Elementen linker Amerikakritik. Einzelne, in der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft positiv konnotierte Phänomene amerikanischen Ursprungs werden US-Kriegshandlungen gegenübergestellt und dadurch ebenfalls denunziert: "Coca Cola" und der amerikanische Atombombenabwurf auf "Hiroshima" oder das mit amerikanischen Marshall-Plan-Mitteln angeschobene "deutsche Wirtschaftswunder" und der "vietnamesische Krieg". Die von den Amerikanern als Symbol der freien westlichen Welt mitbegründete "Freie Universität" Berlin wird mit der "Universität von Teheran" kontrastiert, was auf die amerikanische Unterstützung des Schahs von Persien anspielt, der sein Land mit eiserner Hand diktatorisch regierte. Diese Gegenüberstellungen münden in der ironischen Demaskierung von "freedom und democracy", des Wahlspruches, der wie kein anderer das außenpolitische Selbstverständnis der USA widerspiegelt. 

Diese Gegenüberstellungen als Antwort auf die Frage "Warum brennst du, Konsument?" kreieren die zynische Logik des Flugblattes: Die Ereignisse in Vietnam und im Iran werden in direkte Verbindung mit Alltag und Lebensweise in Europa gebracht. Europäische Konsumenten brennen, so suggeriert das Flugblatt, weil sie den amerikanischen Krieg in Vietnam oder den Schah von Persien stillschweigend tolerieren: Wer von "Coca Cola", "deutschem Wirtschaftswunder" oder der "Freien Universität" – Symbole für westlich-amerikanischen Lebensstil – profitiert, trägt Verantwortung für Krieg und Verbrechen in Südostasien und dem Nahen Osten. Zur Disposition gestellt wird damit das westlich-amerikanische Modell als solches. 

Konsumgesellschaft, Populärkultur und Mediengesellschaft 

Stellvertretend dafür rückt das Flugblatt die entwickelte Konsumgesellschaft und deren als skrupellos empfundene Mechanismen in den Mittelpunkt: "Skeptiker mögen davor warnen, ‚König Kunde’, den Konsumenten, den in unserer Gesellschaft so eindeutig Bevorzugten und Umworbenen, einfach zu verbrennen". Bei "aller menschlichen Tragik" des Kaufhausbrandes gelte es – dem Leistungsprinzip und der Fortschrittsorientierung des amerikanischen Modells entsprechend – gegenüber dem "Neuen aufgeschlossen" zu sein. 

Die Kritik an Konsumgesellschaft und Populärkultur westlich-amerikanischer Prägung gehörte zu einem der vorrangigen von der Kommune 1 aufgegriffenen Themen, welche sich in vielen ihrer Aktionen wiederfand. <footnote data-anchor="anmerkung14" data-id="fn14" id="fn14">[14]</footnote> In einem bereits im April 1967 verfassten Flugblatt heißt es etwa: "Unsere Novität wird das absolute Flugblatt und der absolut gewaltlose Protest gegen die Werbekampagnen mit den Symbolen des Imperialismus sein; wir werden sein Spiel, wie schön er in seiner Warenform und Kauftriebfreiheit sei, ernsthaft ausspielen, […]". <footnote data-anchor="anmerkung15" data-id="fn15" id="fn15">[15]</footnote>

Damit reiht sich die Kommune 1 – und mit ihr weite Teile der westdeutschen 68er-Bewegung – in die lange Tradition deutscher Amerikakritik seit dem Ersten Weltkrieg ein: Seit ihren Anfängen in den zwanziger Jahren stand die sich ausbildende Konsumgesellschaft in deren Zentrum, und zwar von linker wie auch von rechter Seite. <footnote data-anchor="anmerkung16" data-id="fn16" id="fn16">[16]</footnote> Und auch das Kaufhaus als Symbol kann auf eine lange Tradition als Kristallisationspunkt deutscher Kritik an westlich-amerikanischen Ideen zurückblicken. <footnote data-anchor="anmerkung17" data-id="fn17" id="fn17">[17]</footnote>

Andererseits pflegten die Kommunarden ein durchaus ambivalentes Verhältnis zu Populärkultur, Medien- und Konsumgesellschaft: "Die Kombination von Lebensstil-Labor, Show und Kommerz war in der Kommunebewegung von Anfang an präsent." <footnote data-anchor="anmerkung18" data-id="fn18" id="fn18">[18]</footnote> Vor allem das Verhältnis zwischen Kommune und Medien glich einer Symbiose. Die überbordende Presseresonanz motivierte die Kommunarden zu immer neuen, schlagzeilenträchtigen Aktionen. Fritz Teufel kommt in der Rückschau zu dem Schluss: "Gerade wir Weltverbesserer brauchten die Springerpresse wie die Luft zum Atmen." <footnote data-anchor="anmerkung19" data-id="fn19" id="fn19">[19]</footnote>

Kommune 1 und weite Teile der 68er-Bewegung charakterisierte also eine eigentümliche "Mischung aus ironischer Konsumkritik und dem halb freiwilligen Verschmelzen mit der Logik und Sprache der Konsumkultur". <footnote data-anchor="anmerkung20" data-id="fn20" id="fn20">[20]</footnote>

Gewalt als Mittel des Protests? 

Darauf dass die Ursache des Kaufhausbrandes bei Erscheinen der Flugblattserie noch nicht geklärt war, wurde bereits verwiesen. Mit dieser Unsicherheit und den Spekulationen über eine mögliche Brandstiftung durch amerikakritische Vietnamkriegsgegner spielen die Autoren: "Ein brennendes Kaufhaus mit brennenden Menschen vermittelte zum erstenmal in einer europäischen Großstadt jenes knisternde Vietnam-Gefühl (dabei zu sein und mitzubrennen), das wir in Berlin bislang noch missen müssen." Dieser Aspekt muss in Zusammenhang mit den anderen Flugblättern der Kaufhaus-Serie betrachtet werden: Flugblatt Nr. 6 wurde als vermeintliches Bekennerschreiben einer belgischen Anarchistengruppe gestaltet; Flugblatt Nr. 8 ist überschrieben mit der Frage: "Wann brennen die Berliner Kaufhäuser" und endet mit der Parole "burn, ware-house, burn!" <footnote data-anchor="anmerkung21" data-id="fn21" id="fn21">[21]</footnote>

Die Massenpresse, allen voran die Bild-Zeitung, berichtete denn auch ausgiebig und prominent über die Flugblätter der Kommune und interpretierte sie als direkte Aufforderung zur Brandstiftung. Die Berliner Staatsanwaltschaft sah dies ähnlich und strengte einen Prozess an, der von den Kommunarden zum medienwirksamen Spektakel umfunktioniert wurde. Der Prozess endete am 22. März 1968 mit Freispruch. Während des Verfahrens hatten prominente Gutachter – unter anderem Günter Grass und Walter Jens – den surrealistisch-satirischen Charakter der Flugblätter bestätigt. <footnote data-anchor="anmerkung22" data-id="fn22" id="fn22">[22]</footnote>

Auch aus der Rückschau muss das Dokument als literarischer Beitrag zur zeitgenössischen Gesellschaftskritik gewertet werden, aus dem nicht zwingend ein Aufruf zur Brandstiftung abgeleitet werden kann. Dennoch war das Verhältnis der Autoren zu Gewalt als Mittel politischer Auseinandersetzung ambivalent. 

Keine zwei Wochen nach dem Freispruch, am Abend des 2. April 1968, legten Andreas Baader und Gudrun Ensslin, Thorwald Proll und Horst Söhnlein Brände in zwei Frankfurter Kaufhäusern. Der SDS und weite Teile der APO distanzierten sich deutlich von der Brandstiftung, während die Kommune in einer zweideutigen Stellungnahme durchblicken ließ, dass sie Brandstiftung prinzipiell für legitim halte. Es sei "immer noch besser, ein Warenhaus anzuzünden, als ein Warenhaus zu betreiben", kommentierte Fritz Teufel. <footnote data-anchor="anmerkung23" data-id="fn23" id="fn23">[23]</footnote>  Wie auch sein Mitkommunarde Dieter Kunzelmann suchte Fritz Teufel kurz darauf Anschluss an gewaltbereite, linksrevolutionäre Kreise.

Die Mehrheit der Kommune 1 und ebenso die Mehrheit der 68er-Bewegung lehnte jedoch Gewalt als Mittel der Politik ab und verurteilte den Weg in den Terrorismus, den eine Minderheit von ihr am Übergang zu den siebziger Jahren einschlug.

 5. Fazit 

Mittels Interpretation eines Flugblattes der Kommune 1 konnten beispielhaft einige Charakteristika der westdeutschen 68er-Bewegung näher betrachtet werden. Politische Flugblätter waren ein wichtiges Medium der Studentenbewegung und stellen damit einen wertvollen Quellentypus für die Erforschung ihrer Geschichte dar.  

Die Quelle steht zunächst für eine spezifische Form des politischen Protests, der von Teilen der 68er-Bewegung aufgegriffen, weiterentwickelt und popularisiert wurde: Mithilfe von Satire und Provokation sollte Aufmerksamkeit erregt und eine Plattform für die Formulierung von Kritik und eigenen Forderungen geschaffen werden.  

Inhaltlich greift die Quelle mit der Verurteilung des Vietnamkriegs eines der zentralen Themen der 68er-Bewegung auf und stellt eine direkte Verbindung zwischen dem Kriegsschauplatz in Südostasien und der Lebensweise in den USA und Westeuropa her. Allerdings war das Verhältnis der 68er zu westlicher Populärkultur, Konsum- und Mediengesellschaft durchaus ambivalent: Gerade die Kommune 1 gehörte zu ihren schärfsten Kritikern, war aber gleichzeitig Nutznießer, wenn nicht sogar Katalysator der Konsum- und Mediengesellschaft.  

Schließlich konnte anhand der Quelle das Verhältnis von Protestbewegung und Gewalt thematisiert werden: Das Flugblatt muss als satirisch-literarische Form der Gesellschaftskritik begriffen werden und kann in keiner Weise – wie von einigen Zeitgenossen – als Aufruf zur Brandstiftung verstanden werden. Jedoch verdeutlichte die Kontextualisierung des Flugblattes und seiner Autoren das zwiespältige Verhältnis von Teilen der Bewegung zur Gewaltfrage. Während lediglich eine Minderheit den Weg in den Terrorismus einschlug, verurteilte die Mehrheit der westdeutschen 68er diesen Schritt, da sie Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung ablehnte.

 

Anmerkungen

<footnote data-anchor="fn1" data-id="anmerkung1" id="anmerkung1">[1]</footnote> Franz Schneider (Hrsg.), Dienstjubiläum einer Revolte . „1968“ und 25 Jahre, München 1993.

<footnote data-anchor="fn2" data-id="anmerkung2" id="anmerkung2">[2]</footnote> Wolfgang Kraushaar, 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur, Hamburg 2000. Zur umfangreichen Literatur zu „1968“ vgl. den Literaturbericht von Klaus Weinhauer, Zwischen Aufbruch und Revolte: Die 68er-Bewegung und die Gesellschaft der Bundesrepublik der sechziger Jahre, in: NPL 46 (2001), S. 412-432, sowie zu aktuellen Neuerscheinungen die Sammelbesprechung von Philipp Gassert, Sammelrezension „1968“ in der Bundesrepublik , in: H-Soz-u-Kult, 25.06.2007, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-2-183.

<footnote data-anchor="fn3" data-id="anmerkung3" id="anmerkung3">[3]</footnote> Zur Geschichte der Kommune 1 vgl. Detlef Siegfried, Time Is on My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006, vor allem S. 476-520, sowie Florentine Fritzen, Die Berliner „Kommunen“: Träger einer Kulturrevolution von 1968?, in: Riccardo Bavaj/Dies. (Hrsg.), Deutschland – ein Land ohne revolutionäre Traditionen? Revolutionen im Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts im Lichte neuerer geistes- und kulturgeschichtlicher Erkenntnisse, Frankfurt am Main u. a. 2005, S. 137-157. Stellvertretend für die Erinnerungsliteratur ehemaliger Mitglieder der Kommune 1: Ulrich Enzensberger, Die Jahre der Kommune 1. Berlin 1967-1969, Köln 2004.

<footnote data-anchor="fn4" data-id="anmerkung4" id="anmerkung4">[4]</footnote> Ausführlich zur Interpretation dieses Bildes: Sven Reichardt, Inszenierung und Authentizität. Zirkulation visueller Vorstellungen über den Typus des linksalternativen Körpers, in: Habbo Knoch (Hrsg.), Bürgersinn mit Weltgefühl. Politische Moral und solidarischer Protest in den sechziger und siebziger Jahren, Göttingen 2007, S. 225-250, vor allem 227-235.

<footnote data-anchor="fn5" data-id="anmerkung5" id="anmerkung5">[5]</footnote> Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967-1977, Köln 2001, S. 151.

<footnote data-anchor="fn6" data-id="anmerkung6" id="anmerkung6">[6]</footnote> Thomas Daum, Die 2. Kultur. Geschichte, Selbstverständnis und Produktion der literarischen Alternativpresse in der Bundesrepublik, Mainz 1981.

<footnote data-anchor="fn7" data-id="anmerkung7" id="anmerkung7">[7]</footnote> Marco Carini, Fritz Teufel. Wenn’s der Wahrheitsfindung dient, Hamburg 2003, S. 54.

<footnote data-anchor="fn8" data-id="anmerkung8" id="anmerkung8">[8]</footnote> Vgl. Klaus Briegleb, 1968. Literatur in der antiautoritären Bewegung, Frankfurt am Main 1968, S. 62-71.

<footnote data-anchor="fn9" data-id="anmerkung9" id="anmerkung9">[9]</footnote> Von der umfangreichen Literatur zu Außerparlamentarischer Opposition und Studentenbewegung sei lediglich stellvertretend genannt: Ingrid Gilcher-Holtey (Hrsg.), 1968. Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1998. Vgl. außerdem die Hinweise in Anm. 1.

<footnote data-anchor="fn10" data-id="anmerkung10" id="anmerkung10">[10]</footnote> Vgl. Carini, S. 38.

<footnote data-anchor="fn11" data-id="anmerkung11" id="anmerkung11">[11]</footnote> Ebd., S. 41.

<footnote data-anchor="fn12" data-id="anmerkung12" id="anmerkung12">[12]</footnote> Briegleb, S. 59.

<footnote data-anchor="fn13" data-id="anmerkung13" id="anmerkung13">[13]</footnote> Vgl. Siegfried, S. 477 f.; Fritzen, S. 144 ff., sowie Nilpferd des höllischen Urwalds. Spuren in eine unbekannte Stadt. Situationisten, Gruppe SPUR, Kommune 1. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des Werkbund-Archivs, Berlin 30. Oktober bis 1. Dezember 1991. Im Auftr. des Werkbund-Archivs hrsg. von Wolfgang Dreßen, Gießen 1991.

<footnote data-anchor="fn14" data-id="anmerkung14" id="anmerkung14">[14]</footnote> Im Winter 1966 hatte die Kommune etwa go-ins auf dem Berliner Kurfürstendamm veranstaltet, bei der die Teilnehmer mit Flugblättern gefüllte Geschenkpakete trugen, die sie im Weihnachtsgeschäft verteilten. Vgl. Sara Hakemi/Thomas Hecken, Die Warenhausbrandstifter, in: Wolfgang Kraushaar (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Bd.1, Hamburg 2006, S. 316-331, vor allem S. 320 f., sowie Siegfried, S. 481.

<footnote data-anchor="fn15" data-id="anmerkung15" id="anmerkung15">[15]</footnote> Flugblatt Nr. 5, zit. in: Briegleb, S. 66.

<footnote data-anchor="fn16" data-id="anmerkung16" id="anmerkung16">[16]</footnote> Zur deutschen Amerikakritik im 20. Jahrhundert vgl. Anselm Doering-Manteuffel, Dimensionen von Amerikanisierung in der deutschen Gesellschaft, in: Archiv für Sozialgeschichte 35 (1995), S.1-34.

<footnote data-anchor="fn17" data-id="anmerkung17" id="anmerkung17">[17]</footnote> Zum Kaufhaus als Symbol und Erinnerungsort vgl. Uwe Spiekermann, Das Warenhaus, in: Alexa Geishövel/Habbo Knoch (Hrsg.), Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main/New York 2005, S. 207-218.

<footnote data-anchor="fn18" data-id="anmerkung18" id="anmerkung18">[18]</footnote> Stephan Malinowski/Alexander Sedlmaier, „1968“ als Katalysator der Konsumgesellschaft. Performative Regelverstöße, kommerzielle Adaptionen und ihre gegenseitige Durchdringung, in: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006), S. 238-267, hier: S. 255.

<footnote data-anchor="fn19" data-id="anmerkung19" id="anmerkung19">[19]</footnote> Zit. in: Carini, S. 44.

<footnote data-anchor="fn20" data-id="anmerkung20" id="anmerkung20">[20]</footnote> Malinowski/Sedlmaier, S. 256. Zum Verhältnis von Jugend- und Konsumkultur vgl. darüber hinaus vor allem Siegfried.

<footnote data-anchor="fn21" data-id="anmerkung21" id="anmerkung21">[21]</footnote> Vgl. Flugblatt Nr. 8 abgedruckt in: Rainer Langhans/Fritz Teufel, Klau mich, unveränderte Neuauflage, München 1977 (zuerst: Frankfurt am Main 1968), o. S.

<footnote data-anchor="fn22" data-id="anmerkung22" id="anmerkung22">[22]</footnote> Vgl. Siegfried, S. 512. Die beiden Angeklagten brachten denn auch kurz darauf ihre eigene Prozessdokumentation heraus: Langhans/Teufel, Klau mich.

<footnote data-anchor="fn23" data-id="anmerkung23" id="anmerkung23">[23]</footnote> Fritz Teufel zit. in: Siegfried, S. 514. Zu den Reaktionen auf den Frankfurter Kaufhausbrand vgl. ebd., S. 513 f., Fritzen, S. 151.