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Die Schwierigkeiten allgemeiner Systematisierungen

Quellen lassen sich nach verschiedenen Kriterien einteilen, etwa nach dem Material (Papyrus, Papier, Pergament, Stein, Metall, digitale Audiodatei etc.), nach formalen Gesichtspunkten (Bild, Text, mündliche Aussage etc.) oder nach inhaltlichen Aspekten, insbesondere nach dem Zweck oder der Absicht der Quelle (Recht, Verwaltung, Literatur, Briefe etc.).[1] Keine dieser Einteilungen kann für sich beanspruchen, allgemein gültig zu sein. Anhand von zwei Beispielen soll im Folgenden gezeigt werden, welche Probleme generelle Systematisierungen mit sich bringen.

Tradition und Überrest

Eine in der älteren Geschichtswissenschaft gängige Einteilung, auf die immer wieder verwiesen wird, ist die Unterscheidung von Quellen in „Tradition“ und „Überrest“. Unter Tradition versteht man demnach alle Überlieferungen, die mit der Absicht angefertigt wurden, über vergangene Ereignisse zu berichten, während Überreste ohne eine solche Absicht entstanden sind.

Das Problem dieser Einteilung besteht zum einen darin, dass keine Quelle eindeutig zugeordnet werden kann. Hans-Werner Goetz bringt das gut auf den Punkt: „Jede Quelle kann – je nach Fragestellung – sowohl Tradition wie Überrest sein, weil sie sowohl Absichtliches wie Unabsichtliches überliefert.“[6] Zum anderen – und dieser Einwand ist noch wichtiger – wurde in den älteren Geschichtswissenschaften, insbesondere im 19. Jahrhundert, den „Überresten“ ein höherer Quellenwert zugesprochen. Sie wurden als glaubhafter eingeschätzt, weil sie sozusagen einen unverfälschten Blick auf die Vergangenheit erlaubten. In den Worten von Ernst Bernheim: „[…] während [die Methodik] die Zeugnisse der Überreste ohne weiteres als Beweismomente der Thatsächlichkeit gelten lassen darf, muss sie besondere Massregeln treffen, um bei den Zeugnissen der Tradition die entstellenden subjektiven Einflüsse zu erkennen und möglichst zu eliminieren […].“[7] Diese positivistische (also auf die Rekonstruktion von Fakten und Ereignissen ausgerichtete) Sichtweise zielt darauf ab, die „Entstellungen“[8] aufzudecken, um dadurch zu den ‚unverfälschten‘ historischen Tatsachen zu gelangen. Diese Position wird in der aktuellen Forschung nicht mehr vertreten. Winfried Schulze warnt sogar vor der Verwendung der Kategorien „Tradition“ und „Überrest“:

„Ich halte diese Unterscheidung für ebenso wenig sinnvoll wie die Unterscheidung willkürlicher und unwillkürlicher Überlieferung. Sie kann sogar gefährlich sein, weil solche Einteilungen möglicherweise die weitere Nutzung präjudizieren können. Vielmehr muss gelten, dass alle Quellen den gleichen kritischen Verfahren unterzogen werden müssen, um sie zum Sprechen zu bringen. Die innere und äußere Kritik muss unbeeinflusst von a priori-Kategorisierungen angewendet werden.“[9]

Mit anderen Worten: Indem man eine Quelle als „Überrest“ kategorisiert, besteht die Gefahr, sie gegenüber einer „Traditionsquelle“ allein auf dieser Basis als ‚authentischer‘ einzuschätzen. Dazu ein konkretes Beispiel: In der Vita Adelheidis, der Lebensbeschreibung der Äbtissin Adelheid von Vilich, geschrieben ca. 1056/57, erwähnt die Autorin mehrere Urkunden, in denen es um den rechtlichen Status der Vilicher Frauengemeinschaft geht, und gibt einige Auszüge daraus fast wörtlich wieder. Die Urkunden, die aus den Jahren 987, 996 und 1003 stammen, sind teils im Original, teils in späteren Abschriften überliefert. Die Vita fällt in die Kategorie „Tradition“, die Urkunden sind „Überreste“. Demnach könnte man die Aussagen der Vita zu den Urkunden gänzlich ignorieren, denn sie fügen ja allenfalls subjektive Einschätzungen (‚Entstellungen‘) der Autorin hinzu. Fragt man aber nicht nach dem rechtlichen Status der Frauengemeinschaft, sondern beispielsweise danach, wie in Klöstern mit Urkunden umgegangen wurde, wie sie rezipiert oder genutzt wurden, hat die Vita einen hohen Quellenwert. Für die Frage, wie die Autorin den rechtlichen Status der Frauengemeinschaft nach 1050 eingeschätzt hat, ob sich etwa ein Wandel vollzogen hat, können die Urkunden selbst keine Antworten liefern, ganz im Gegensatz zur Vita. Erneut kommt es also darauf an, welches Erkenntnisinteresse Sie verfolgen und welcher Fragestellung Sie nachgehen.

Einteilung nach der äußeren Form

Auch eine sehr einleuchtend erscheinende Einteilung von Quellen nach ihrer äußeren Form in Schriftquellen, Sachquellen, Bildquellen, Tonquellen und gegenstandslose (abstrakte) Quellen (wie z.B. Sprache) hat ihre Tücken. So kann eine Münze beispielsweise nicht eindeutig zugeordnet werden, denn die Münze selbst ist zwar eine Sachquelle, sie besitzt aber oft eine Aufschrift, ist also zugleich auch Schriftquelle, und zeigt häufig auch eine Darstellung, ist also auch Bildquelle. Je nach Fragestellung können also unterschiedliche Aspekte in den Fokus geraten (das Material, der Münzwert, die Verbreitung, die Ikonographie), so dass dann auch unterschiedliche Methoden und Hilfsmittel eingesetzt werden. Eine absolute und allgemeingültige Einteilung von Quellen ist dagegen nicht möglich und wird es auch niemals sein.


[1] Vgl. Goetz, Hans-Werner: Proseminar Geschichte: Mittelalter, 4. Aufl., Stuttgart 2014, der für die mittelalterlichen Quellen eine Systematisierung nach dem Zweck der Quelle vornimmt (S. 109–227).

[2] Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik, Leipzig 1882, §§ 21–24, S. 14f.

[3] Ebd., § 23, S. 14.

[4] Bernheim, Ernst: Lehrbuch der Historischen Methode und der Geschichtsphilosophie. Mit Nachweis der wichtigsten Quellen und Hilfsmittel zum Studium der Geschichte, Leipzig 1903, S. 230.

[5] Ebd., S. 231.

[6] Goetz, Proseminar Geschichte, S. 95. Dass die Einteilung in „Tradition“ und „Überrest“ nicht absolut und allgemeingültig ist, wusste übrigens auch schon Bernheim, der anmerkt, „dass die angegebenen Unterschiede […] die einzelnen Quellengattungen nicht kastenmässig voneinander abschliessen, sondern dass dieselben einigermaßen fliessend sind“ (Bernheim: Lehrbuch, S. 232).

[7] Bernheim: Lehrbuch, S. 430; vgl. Droysen: Historik, § 25, S. 15.

[8] Bernheim: Lehrbuch, S. 431.

[9] Schulze, Winfried: Einführung in die Neuere Geschichte, Stuttgart 2010, S. 46.