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AfroamerikanerInnen

Andreas Hofbauer

Der Begriff A. wird für die in Amerika lebende Bev. mit Vorfahren aus Afrika verwendet. Aus verschiedenen Gründen ist es nicht möglich, exakte quantitative Angaben zu A. in LA zu machen. Da entsprechende Statistiken fehlen, ist man von Schätzungen abhängig. Dies führt zu teilweise sehr vagen Angaben; so werden für den Bev.-Anteil der „nicht weißen“ Bev. (negros und mulatos) in Venezuela und der Dominikanischen Republik krass voneinander abweichende Werte zwischen 9% und 70% bzw. 11% und 90% angegeben. Aber auch dort, wo offizielle Statistiken vorliegen (Brasilien, Kuba, Puerto Rico, Uruguay), müssen sie mit Vorsicht betrachtet werden und können nur bedingt für vergleichende Analysen herangezogen werden. Allzu uneinheitlich sind die Einteilungskriterien (so können Begriffe wie pardo und mestiço für Vermischungen mit Weißen und/ oder mit Indigenen stehen); außerdem drücken die Selbstzuordnungen zu bestimmten „Hautfarben“ und „Rassenkategorien“ immer gesellschaftliche Machtkämpfe aus. Der Disput um derartige Kategorien und deren Definition steht in direktem Zusammenhang mit Diskursen rund um whiteness und blackness sowie um nationale Identitäten, die die afroamerik. Geschichte und Kultur tiefgreifend geprägt haben. Im Alltag fällt auf, dass die Perzeption der Hautfarbe von sozialen und kulturellen Kontexten beeinflusst wird; weithin herrscht die Tendenz, Mittel- und Oberschichtangehörige als nicht schwarz zu klassifizieren – selbst wenn sie dunkelhäutig sind.

Durch die Ende des 15. Jhs. einsetzenden und bis weit ins 19. Jh. fortgesetzten Sklaventransporte (Sklaven) wurden über 11 Mio. Afrikaner in die Neue Welt verschleppt. Sie stammten aus verschiedenen Regionen des Kontinents (mehrheitlich aus Westafrika), wo sie in unterschiedlich organisierten Gesellschaften lebten, verschiedene Sprachen sprachen und unterschiedliche Religionen praktizierten. Die meisten schwarzen Sklaven wurden in jene Länder gebracht, deren Wirtschaft streng exportorientiert ausgerichtet war; insbesondere dorthin, wo Arbeitskräftemangel bestand, nachdem bereits große Teile der indigenen Bev. ausgerottet worden waren. In Brasilien, wo mehr als ein Drittel der nach Amerika verschleppten afrikanischen Sklaven an Land ging, aber auch auf den meisten karibischen Inseln übertraf die Anzahl der Schwarzen über lange Perioden bei weitem diejenige der Weißen.

Die schwarze Bev. stellte nirgendwo eine einheitliche soziale Gruppe dar. Zu unterschiedlich waren ihre Arbeits- und Lebensbedingungen: Für die auf Plantagen und in Minen schuftenden Sklaven waren sie um einiges härter als für Haus- oder Leihsklaven. Letztere boten tagsüber auf den Straßen der Städte ihre Dienste an, konnten einen Teil ihrer Einkünfte für sich behalten und somit Geld für den Ankauf des Sklavenfreibriefs ansparen. Hinzu kamen ethnische und linguistische Unterschiede, die nicht selten von den Sklavenherren ausgenutzt wurden, um Uneinigkeit unter den Sklaven zu schüren. Häufig versuchte die zweite Generation sich bei diversen kulturellen und politischen Manifestationen von der ersten Generation abzugrenzen. Auch der Umstand, dass die zur Bestrafung von Sklaven eingesetzten Personen meist selbst ehemalige Sklaven oder Mulatten waren, war ein Hindernis für die Ausformung eines umfassenden Solidaritätsgefühls rund um die oktroyierte, diskriminierende Kategorie „schwarz“. Schwarz (negro, preto) war Synonym für Sklave. Dieser Begriff hatte keinerlei positiven Inhalt und war von christlichen Vorstellungen über Sünde, Tod, Teufel und Ungläubigkeit geprägt.

Dennoch gab es Kooperation und solidarisches Handeln jenseits der genannten Spannungen und Konflikte. Neben individuellem Widerstand wie Sabotage, Kindestötung, Suizid oder Übergriffen auf die Sklavenherren entwickelten die Sklaven und Exsklaven eine Reihe von kollektiven Strategien, die jede auf ihre Art eine widerständige Haltung gegenüber dem Sklavensystem ausdrückte. Da waren zunächst einmal jene Kommunitäten, die von entflohenen Sklaven – oft in schwer zugänglichen Regionen gegründet wurden und in Brasilien quilombos, in Spanischamerika palenques und cumbes hießen. Die kolonialen Machthaber gingen militärisch gegen sie vor, sodass den meisten dieser widerständigen Gemeinschaften keine lange Lebensdauer beschieden war (außer Palmares in Brasilien, das ca. 100 Jahre bestand).

Sklaven waren immer wieder maßgeblich an bedeutenden Aufständen beteiligt; Nachrichten über die erfolgreiche Revolution in Haiti, die Abschaffung der Sklaverei auf den britischen karibischen Inseln und den beginnenden Druck Englands auf die Abschaffung des transatlantischen Sklavenhandels heizten Anfang des 19. Jhs. das widerständige Klima in den urbanen Zentren zusätzlich an. Große soziale Bedeutung hatten die irmandades negras (Brasilien) und die cabildos (Kuba), da sie bis zur Abschaffung der Sklaverei der einzige Ort waren, wo sich Schwarze – unter der Schirmherrschaft eines katholischen Heiligen – legal zusammenfinden konnten. Die Struktur dieser im iberischen Mittelalter entstandenen christlichen Selbsthilfeorganisationen wurde von den A. genutzt, um ihren Mitgliedern Krankenpflege und würdige Begräbniszeremonien zu garantieren oder bei extremen Willkürakten eines Sklavenherrn zu intervenieren. Außerdem trugen die irmandades (cabildos) dazu bei, Erinnerungen an Afrika im kulturellen Gedächtnis wachzuhalten. Innerhalb dieser Vereinigungen, die die ethnisch-linguistische Zugehörigkeit ihrer Gründer hochhielten, entstanden neue Identitätsgruppen, die von den A. selbst „Nationen“ genannt wurden. Diese Nationen-Struktur spielte später bei der Ausformung der rituellen Traditionen innerhalb des candomblé (Brasilien), der santería, des palo monte (Kuba) und des voudou (Haiti) eine wichtige Rolle. Die Verehrung von afrikanischen Gottheiten (orixás, voduns, inquices, Iwas), die bisweilen mit katholischen Heiligen assoziiert wurden, wurde von der weißen Oberschicht und der Kirche heftig bekämpft. Allerdings zog die religiöse Welt der candomblés und santerías, zu der auch komplexe Heil- und Orakelrituale gehören, bald auch Nichtschwarze an; die sich daraus ergebenden Allianzen mit einflussreichen Weißen erwiesen sich oft als effizienter Schutz gegen Verfolgung und übergriffe der Polizei (afroamerikanische Religionen).

Ende des 19. Jhs. war die Sklavenhaltung in ganz LA verboten. Im Zuge der von den lokalen Eliten angestrebten wirtschaftlichen Modernisierung kamen neue wissenschaftliche Konzepte zur Geltung, die ein biologistisches Rassendenken (Rassismus) mit evolutionistisch konzipierten Fortschrittsideen verbanden. Sie bildeten eine bedeutende Rechtfertigungsgrundlage für jene Regierungsprojekte, die die Einwanderung weißer Arbeitskräfte, die als produktiver als die schwarzen betrachtet wurden, förderten (Migration). In vielen Städten wurden nun die Schwarzen aus den Handwerksgewerben und Fabriken gedrängt und fanden im besten Fall schlecht bezahlte Arbeit als Hausangestellte.

Mit dem Versiegen der Einwanderungswellen erstarkten in der Alltagspolitik nationalistische Töne, und populistische Regierungen versuchten, sich den Massen schwarzer Arbeiter anzunähern. Rückhalt erhielt diese Politik von wissenschaftlichen Diskursen wie z. B. dem von Gilberto Freyre geprägten Konzept der brasilianischen democracia racial oder der von José Vasconcelos entwickelten Idee der raza cósmica in Mexiko (Indigenismus). Sie betonten, oft in Abgrenzung zur Segregationspolitik in den USA, die Einzigartigkeit der lateinamerik. Kulturen, die aus der Verschmelzung (mestizaje, mestiçagem) der weißen, schwarzen und indigenen „Rassen“ (und Kulturen) hervorgegangen seien und dadurch Antagonismen und Rassismen überwinden könnten. Insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. kam es zur gesellschaftlichen Aufwertung von marginalisierten, mit der schwarzen Bev. assoziierten kulturellen Manifestationen (z. B.: Kuba: rumba; Argentinien: tango; Uruguay: candombe ). Hier wurden Teile der „schwarzen Kultur“ mit nationaler Symbolik verknüpft und mit dem Aufkommen des Tourismus auch oft kommerzialisiert. Der Preis für die Anerkennung war oft Reglementierung – wie z. B. bei der capoeira und den Sambaschulen in Brasilien – und damit nicht selten Autonomieverlust und Einschränkung widerständiger Ausdruckskraft (Tanz, Musik).

All dies erschütterte das Weißwerdungs-Ideal (branqueamento, enblanquecimiento), das nun weniger biologisch, sondern „kulturalisiert“ konzipiert wurde, nur wenig. Auch die ersten sich zu Beginn des 20. Jhs. in urbanen Zentren formierenden politischen Bewegungen von A., die nicht selten lokale nationalistisch-populistische Projekte unterstützten, verfolgten einen Kurs kultureller Assimilation. Um die Chancen auf Arbeit zu erhöhen und dem Problem der Diskriminierung am Arbeitsmarkt entgegenzutreten, setzten z. B. die Anführer der Partei Frente Negra Brasileira (1931-1937) auf die Obernahme weißer Werte und Verhaltensmuster und riefen ihre Anhänger auf, sich von allem „Afrikanischen“ zu distanzieren.

Obwohl staatlich verordnete Rassengesetze nirgends existierten, waren Diskriminierungen im Alltag die Regel (Zutrittsverbote zu öffentlichen Lokalitäten, Ausgrenzungen am Arbeitsmarkt). Diese zu unterbinden gelang auch durch verschiedene Antidiskriminierungsgesetze nicht. In dieser Situation gaben die Befreiungsbewegungen in Afrika, die US-Bürgerrechtsbewegung und dann auch der erfolgreiche Kampf gegen lateinamerik. Diktaturen den Anstoß zur Bildung neuer schwarzer Gruppierungen, die nun nationalistischen Ideologien den Rücken kehr ten. Ausgehend von einer radikalen Rassismuskritik, rief diese junge Aktivistengeneration alle Nichtweißen auf, ein „schwarzes Bewusstsein“ zu entwickeln. Sie propagiert eine selbstbewusste Form des Schwarz­Seins, wobei der Hinwendung zu den kulturellen afrikanischen Wurzeln und der Vernetzung mit Aktivisten anderer afrikanischer Diaspora eine besondere Rolle zukommt.

Parallel dazu dehnten sich diverse kulturelle und religiöse Traditionen (capoeira; umbanda, santeria, candomblé) über die Landesgrenzen und global aus. Umgekehrt fanden auch schwarze Einflüsse aus dem englischsprachigen Amerika (soul, funk, reggae, seit den 1990er-Jahren hip hop) starken Widerhall in Afro-LA und wurden hier weiterentwickelt. Transnationale Kontakte und Dialoge (auch via Internet) führten zu kulturellen Hybridisierungsphänomenen, konnten aber auch Tendenzen der Entsynkretisierung und Reafrikanisierung stimulieren.

Das offizielle Eingeständnis der Existenz von Rassismus und die Kriminalisierung rassistischer Praktiken (Brasilien: 1988; Kolumbien, Venezuela: 2011) ist Ausdruck einer grundsätzlichen Haltungsänderung lokaler Regierungen gegenüber „Minderheiten“ und insbesondere gegenüber der „schwarzen Frage“. Die UNO-Weltkonferenz gegen Rassismus in Durban (2001) gab den Forderungen der schwarzen Bewegungen neue Impulse und führte in einigen Ländern zur Durchsetzung von multikulturalistisch inspirierten Projekten sowie zu Maßnahmen positiver Diskriminierung. In Brasilien wurden Nachfahren der quilombos das definitive Landrecht des von ihnen bewohnten und genutzten Landes zugesprochen und an Pflichtschulen das Unterrichtsfach „Geschichte und Kultur Afrikas und Afroamerikas“ eingeführt. Seit 2002 gibt es an vielen öffentlichen Universitäten bei den Aufnahmeprüfungen Quotenregelungen für „schwarze“ Kandidaten. Im Zuge der Umsetzung der Politik der Anerkennung wurden einige candomblé-Tempel unter Denkmalschutz gestellt und kulturelle Traditionen wie samba de roda und capoeira zu nationalem Kulturgut erklärt.

Vielerorts nehmen die sozioökonomischen Ungleichheiten zwischen Schwarzen und Weißen tendenziell ab, wenngleich diverse statistische Daten weiterhin eine enorme Kluft zwischen den Polen weiße Männer und schwarze Frauen belegen. Überall in LA hat sich eine schwarze Mittelschicht gebildet, die sich zwar mehrheitlich nicht an spezifisch schwarzen politischen Projekten beteiligt, aber allein durch ihre Präsenz in traditionell weiß konzipierten Räumen und Berufen der „schwarzen Frage“ Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit verleiht. Ende des 20. Jhs. begannen sich viele schwarze Aktivisten zu professionalisieren und nehmen heute strategisch wichtige Positionen in NROs ein oder sind im universitären Bereich und als Rechtsanwälte tätig. Gleichzeitig findet eine Institutionalisierung des Kampfes gegen Rassismus statt (siehe z. B. das 2003 in Brasilien eingerichtete Sekretariat für Rassengleichheit SEPPIR mit dem Status eines Ministeriums). Die Bekämpfung von Rassendiskriminierung und die Wertschätzung ethnisch-kultureller Traditionen und Identitäten sind heute Gegenstand breiter öffentlicher Debatten (Kolumbien, Mexiko). In immer mehr Ländern wird versucht, auch innerhalb staatlicher Institutionen Antworten auf anhaltende strukturelle sozioökonomische und symbolische Diskriminierungen zu finden. Das Engagement der schwarzen Intelligenzija stellt dabei eine der bedeutendsten treibenden Kräfte dar.

Literaturhinweise

G. R. Andrews: Afro-Latin America, 1800–2000, Oxford 2004; P. Wade: Race and Ethnicity in Latin America, 2. Aufl., London 2010.