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Koloniale Geschichte / Kolonialzeit

Renate Pieper

Die Epoche zwischen ca. 1500 und 1800 wird als Kolonialzeit bezeichnet in Abgrenzung zur Geschichte der unabhängigen Staaten, die im 19. Jh. entstanden. In dieser Periode waren weite Gebiete des heutigen LAs Teil der span. und port. Monarchien. Diese regelten die Außenbeziehungen der amerik. Reichen zu anderen europ. Mächten. So erfolgte die erste Abgrenzung zwischen Hispano- und Lusoamerika im Vertrag von Tordesillas (1494) zwischen Kastilien und Portugal auf der Basis päpstlicher Bullen. Obwohl seit dem 16. Jh. insbesondere Frankreich, England und die Niederlande versuchten, in den von den span. und port. Reichen kontrollierten Gebieten Fuß zu fassen, gelang dies nur in den atlantischen Randgebieten der iberischen Imperien, d. h. der Karibik, Venezuelas und im Nordosten Brasiliens. Die europ. Auseinandersetzungen um amerik. Territorien führten im 16. Jh. zu einer umfangreichen Diskussion über die Rechtstitel der europ. Landnahme. Die juristisch-theologischen Debatten in Europa wurden durch die demographische Katastrophe (Conquista; Bev.) in Amerika sowie durch die konfessionellen Konflikte in Europa verstärkt, schufen aber die Grundlagen des europ. geprägten Völkerrechts. Selbst nach dem Span. Erbfolgekrieg (1700–1713/14), durch den die bisher regierenden Habsburger von den Bourbonen abgelöst wurden, konnte man in den hispano- und lusoamerik. Territorien das Vordringen anderer europ. Monarchien weitgehend verhindern. Gleichzeitig weiteten die amerik. Vizekönigreiche die von ihnen kontrollierten Gebiete im Inneren Südamerikas und im Süden der heutigen USA im Verlauf des 18. Jhs. aus, zudem verstärkte Mexiko/Neuspanien seine Kontrolle über die Philippinen. Das Vordringen der Vizekönigreiche ins Landesinnere führte in Südamerika zu Grenzkonflikten zwischen den iberischen Reichen, die im Vertrag von Madrid 1750 beigelegt wurden, indem Spanien auf seine territorialen Ansprüche im heutigen Brasilien verzichtete.

Die inneramerik. Strukturen wurden sowohl von Europa als auch von den unterschiedlichen Verhältnissen vor Ort geprägt. Die oberste Verwaltungsebene bildeten der Indienrat in Madrid (1524 gegr.) und der Überseerat in Lissabon (1604 gegr.). In Spanien war außerdem die 1503 gegründete Casa de la Contratación für den gesamten Waren- und Schiffsverkehr nach Amerika zuständig (Handel). Die europ. Monarchen wurden in LA durch Vizekönige repräsentiert, die im 18. Jh. in Mexiko (seit 1535), Lima (seit 1546), Bogotá, Buenos Aires, sowie in Salvador da Bahia bzw. seit 1763 in Rio de Janeiro residierten. Zivile und militärische Gouverneure sowie Appellationsgerichte (audiencia) ergänzten die königliche Administration. Im 18. Jh. versuchten die iberischen Monarchen im Rahmen der Reformen des aufgeklärten Absolutismus (bourbonische Reformen, pombalinische Reformen) neben der Erhöhung des wirtschaftlichen und steuerlichen Ertrags der Kolonien grundlegende Verwaltungsreformen durchzuführen (Unabhängigkeit). Es wurden neue Vizekönigreiche geschaffen und als Zwischeninstanz auf der Ebene von Provinzen Intendanten ernannt. In den Städten und ihrem Umland führten die Ratsgremien der nach europ. Recht gegründeten Munizipien die Geschäfte zusammen mit einem von der Krone entsandten Beamten (corregidor). Dieser übte auch die Aufsicht über die ländlichen, indigenen Gemeinden (Indigene) mit ihren eigenen Ratsgremien aus. Die Rechtsprechung erfolgte gemäß europ. Recht unter Berücksichtigung der indigenen Gegebenheiten, wodurch sich in Hispanoamerika ein eigenes Recht (derecho indiano) entwickelte.

So wie in Europa entstanden auch in Amerika in der frühen Neuzeit ständische Gesellschaften, in denen allerdings ethnische Kriterien zentral waren für die soziale Hierarchie. Jede Gruppe verfügte über einen eigenen Rechtsstatus (sociedad de castas). Europastämmige und indigene Adlige sowie Kleriker erhielten Privilegien, aber der größte Teil der europastämmigen Bev. gehörte dem nichtadligen Stand an. Frauen waren nur eingeschränkt geschäftsfähig. Indigene verfügten über den Rechtsstatus von Minderjährigen, besaßen aber im Gegensatz zu vielen ihrer in Europa lebenden Zeitgenossen die persönliche Freiheit. Aus Afrika verschleppte Sklaven waren unfrei und konnten verkauft werden. Freigelassene Afrikaner sowie Nachkommen gemischtethnischer Verbindungen (Mestizen) besaßen ähnliche Rechte wie die nichtadligen europastämmigen Gruppen. Da der größte Teil der Europäer und Mestizen in Städten lebte und über eine bessere Rechtsposition verfügte als die ländliche Bev., die sich je nach Region aus indigenen Gruppen oder Afrikanern und Afroamerikanern zusammensetzte, hatte die bäuerliche Bev. ein noch geringeres soziales Ansehen als in Europa. Neben dem rechtlichen Status bestimmten die materiellen Bedingungen, die europ. oder indigen geprägte Kleidung und Kultur sowie der Wohnort den sozialen Status einer Person. Tatsächlich kontrollierten die alteingesessenen, indigenen Eliten sowie europastämmige Grundbesitzer, städtische Kaufleute und die Klöster die ländlichen Gebiete.

Die Bev.-Geschichte der K. war von gegenläufigen Tendenzen geprägt: Europ. Einwanderer und afrik. Sklaven brachten europ., asiatische und afrik. Krankheiten mit, gegen die die Ureinwohner keine Immunität besaßen. Daher ging die indigene Bev. innerhalb von 150 Jahren je nach Region um 80–90% zurück. Erst nach der Mitte des 17. Jhs. stieg ihre Zahl wieder an. Neben der konti­nuierlichen Einwanderung aus Europa sowie teilweise aus Afrika trugen vor allem die Nachkommen von gemischtethnischen Beziehungen zum Bev.-Wachstum in Amerika bei. Unter den Einwanderern befanden sich etwa ein Drittel Frauen. Europ. Heirats- und Familienmuster konnten sich aber nur teilweise durchsetzen (Familie). Ende der K. bestand die Bev. Spanischamerikas zum größten Teil aus Indigenen, gefolgt von Mestizen, Afrikanern, Europäern und deren Nachkommen, während im port. Amerika die aus Afrika stammende Bev. am zahlreichsten war.

In der K. stellte die Landwirtschaft den wichtigsten Wirtschaftszweig dar. Die span. Krone verhinderte die Entstehung von Grundherrschaften, indem sie den Conquistadoren und zwei Generationen ihrer Nachkommen den Landbesitz und Aufenthalt in den indigenen Gemeinden untersagte, ihnen aber einen Teil der Tribute zuerkannte, den die indigene Bev. zahlen musste (encomienda). Die Bewohner der indigenen Gemeinden hatten außerdem Hand- und Spanndienste zu leisten (naboría, mit´a), die nur geringfügig entlohnt wurden. Am bekanntesten wurde die mit´a von Potosí, im heutigen Bolivien, wegen der großen Zahl von Arbeitsverpflichteten, die nach europ. Vorbild in den dortigen Silberminen und Hüttenbetrieben eingesetzt wurden. Die mexikanischen Silberminen wurden fast ausschließlich mit freien Lohnarbeitern betrieben. In den atlantischen Küstengebieten, in denen die einheimische Bev. besonders stark unter der demographischen Katastrophe gelitten hatte und wo sich Plantagenerzeugnisse für die europ. Märkte anbauen ließen, setzte man afrik.  Sklaven ein. Die wichtigsten Ausfuhrprodukte des kolonialen Amerika waren Silber, Gold, Edelsteine und Perlen sowie tropische Farbstoffe (Koschenille, Indigo), Kakao, Zucker, Tabak und Kaffee. Hinzu kamen handwerkliche Erzeugnisse, z. B. Keramik. Während Brasilien Anfang des 18. Jhs. global der wichtigste Goldproduzent war, stieg Neuspanien/Mexiko im 18. Jh. zum weltweit größten Silberproduzenten auf. Seit dem 18. Jh. entstanden in LA große Viehzuchtbetriebe, im Süden waren diese auf den Export ausgerichtet. Ende des 18. Jhs. förderte die beginnende Auflösung des Kirchenbesitzes im Rahmen des Aufgeklärten Absolutismus die Entstehung von Latifundien. Der Handel zwischen den europ. Mutterländern und den jeweiligen amerik. Territorien wurde reglementiert und sollte seit dem 16. Jh. den Angehörigen der jeweiligen Reiche vorbehalten bleiben, wie dies später auch Engländer und Franzosen versuchten. Tatsächlich entwickelte sich der Transatlantikhandel (Atlantische Welt) von Beginn an zu einem wichtigen Teil des globalen Handels ohne wesentliche (proto-)nationale Beschränkungen. Die Importe nach LA umfassten europ. und asiatische Seidenwaren, Leinen- und Wollstoffe, Kupfer- und Eisenerzeugnisse. Aufgrund seiner Lage und der Blüte seiner Silberproduktion entwickelte sich Neuspanien/Mexiko im 18. Jh. zur Drehscheibe im Handel zwischen Asien und Europa. Das Steuerwesen der Bewohner port. und span. Städte und ihres Umlandes orientierte sich an den europ. Vorgaben, wobei in Hispanoamerika die Bev. der indigenen Gemeinden von diesen Steuern befreit und stattdessen zur Entrichtung von Kopfsteuern (Tribut) verpflichtet war.

Die Kultur der K. wurde durch die einheimischen Ethnien und die Einwanderer geprägt. Spanisch und Portugiesisch sprach man hauptsächlich in den europäisch geprägten Städten. Der Einfluss der afrikanischen Sprachen blieb lokal begrenzt. Da die Durchsetzung der europ. Herrschaft nur unter Einbeziehung der indigenen Eliten erfolgen konnte, verbreiteten sich bereits zuvor führende indigene Sprachen wie Quechua und Nahuatl als allgemeine Verkehrssprache im ländlichen Raum. Dies wurde durch die Christianisierung noch gefördert, da die europ. Missionare zumeist eine oder zwei indigene Sprachen erlernten (Sprachen).

Das Bemühen um die Durchsetzung des Katholizismus und das Verbot indigener sowie afrikanischer religiöser Kulte stellte wohl die bedeutendste kulturelle Umwälzung in Amerika im Verlauf der K. dar (kath. Kirche, Religionen). In diesem Zusammenhang erfolgten auch die größten Rückwirkungen auf die europ. Kultur- und Geistesgeschichte. Die Verbreitung europ. Sprache und Religion führte zum Transfer europ. geprägter Malerei, Architektur, Literatur und Musik; Kunst und Tanz, Universitäten und Druckereien nach europ. Muster wurden bereits im 16. Jh. gegründet (Bildungswesen).

Im Verlauf des 17. Jhs. erreichte die koloniale Kultur im Umfeld der vizeköniglichen Höfe ihren ersten Höhepunkt. In der städtischen materiellen Kultur vermischten sich indigene, christliche, islamische und afrik. Einflüsse mit denjenigen aus Ostasien, hingegen blieb die ländliche Kultur stark von den indigenen Traditionen geprägt. Seit der Mitte des 18. Jhs. verbreitete sich die Aufklärung in LA und legte die Grundlage für die Unabhängigkeit.

Literaturhinweise

J. C. Brown: Latin America: A Social History of the Colonial Period, 2. Aufl., Belmont, CA u. a. 2005; K. R. Mills, W. B. Taylor, S. L. Graham (Hg.): Colonial Latin America: A Documentary History, Lanham 2002; H. Pietschmann (Hg.): Mittel-, Südamerika und die Karibik bis 1760, in: Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, Bd. 1, Stuttgart 1994.