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Unabhängigkeit

Silke Hensel

Die U.-Bewegungen in LA gehören in den größeren Kontext der atlantischen Revolutionen, deren Umwälzungen seit den 1770er-Jahren die atlantische Welt erschütterten. 1825 schloss die bolivianische Unabhängigkeit diesen Prozess weitgehend ab, nur Kuba und Puerto Rico blieben noch bis 1898 unter span. Herrschaft.

Langfristige jedoch keineswegs unausweichlich in die U. führende Entwicklungen, die in den politischen Auseinandersetzungen des frühen 18. Jhs. relevant wurden, lagen in den bourbonischen bzw. pombalinischen Reformmaßnahmen der span. und port. Krone, mit denen die Kolonien in Amerika enger an das jeweilige Mutterland gebunden, die Macht der Zentralbehörden gestärkt und vor allem der ökonomische Nutzen aus den Kolonien gesteigert werden sollten. Die Krone erhöhte die Steuern und organisierte deren effektivere Eintreibung, sie gründete neue Monopole wie etwa das Tabakmonopol und versuchte wieder verstärkt, den Außenhandel der Kolonien zu kontrollieren. Außerdem wies die Krone den mächtigen Jesuitenorden, der u. a. für die höhere Bildung in den Kolonien sehr wichtig war, 1767 aus Amerika aus. Viele Familien der Eliten waren davon direkt betroffen. Schließlich drängte die Krone durch die Abschaffung des Ämterkaufs auch den Einfluss von Kreolen in den hohen Kronbehörden zurück. Diese in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. umgesetzten Maßnahmen führten in Amerika zu Unmut, der sich auch in gewaltsamen Erhebungen in Quito 1765, Neu-Spanien 1766, in Hochperu von 1777–1780, in Peru mit der vielleicht gefährlichsten Rebellion von Túpac Amaru II. 1780–1783, die sich nach Hochperu ausbreitete und dort angeführt wurde von Túpac Katari, und im Aufstand der comuneros in Neugranada 1781 äußerte. Der span. Krone gelang es jedoch, jeweils mit einer Mischung aus Zwang und Kompromissen, diese Konflikte zu beenden. Die Legitimität der span. Herrschaft wurde in diesen Rebellionen selten grundsätzlich infrage gestellt. Im 18. Jh. ließ sich in Amerika auch ein erstarkendes Selbstbewusstsein der kreolischen Bevölkerung als Amerikaner, die sich auf die vorspan. Vergangenheit als eigener Geschichte beriefen, beobachten. Bestrebungen zur Loslösung der amerik. Gebiete von den Mutterländern wurden allerdings erst angestoßen durch die Entwicklungen in Europa.

Als erstes Land erkämpfte Haiti 1804 seine U. von Frankreich. Die Franz. Rev. beeinflusste diesen Prozess maßgeblich, wenngleich in Haiti die Sklavenbefreiung zu einem zentralen Anliegen der Revolution wurde. Letztlich waren es die Sklaven, die nicht nur die U. des Landes errangen, sondern eine politische und soziale Revolution durchsetzten. Diese Entwicklung schürte bei der europäischstämmigen Bevkerung in ganz Amerika Ängste und sollte die Isolierung Haitis nach sich ziehen, die langfristig zu großen wirtschaftlichen Problemen führen sollte. Haiti spielte allerdings im U.-Kampf des nördl. Südamerika noch eine Rolle, weil es Simón Bolívar und andere U.-Kämpfer aufnahm, als diese vor den Royalisten fliehen mussten, und unterstützte sie auch mit Ausrüstung und Soldaten. Im Gegenzug musste Bolívar versprechen, sich für die Abschaffung der Sklaverei einzusetzen.

In Spanisch- und Lusoamerika wurden die U.-Bewegungen angestoßen durch die Besetzung der iberischen Halbinsel durch napoleonische Truppen 1808. Die Krise der span. Monarchie und der Umzug des port. Hofes nach Brasilien brachten zunächst Autonomiebestrebungen in Gang, die in U.-Kämpfe übergingen. Die erzwungene Abdankung von Karl IV. und Ferdinand VII. in Spanien lösten eine junta-Bewegung in Spanien und Amerika gleichermaßen aus. Diese Versammlungen von Bürgern beriefen sich auf alte span. Vorstellungen, dass bei Abwesenheit des Monarchen die Souveränität an das Volk zurückfalle. Neben dieser Tradition spielten aufklärerische Ideen eine Rolle. In Amerika bestritten jedoch die hohen Kronbehörden die Notwendigkeit der Schaffung eigener Organe, die die Regierungsgeschäfte übernahmen, solange der legitime Monarch verhindert war. Angehörige des hohen Klerus, dort lebende Europaspanier und Verbündete schlossen sich dem an. Da die Spanier, die sich der franz. Invasion widersetzten, allerdings auf die Unterstützung der amerik. Gebiete angewiesen waren, beteiligten sie diese seit 1809 an Wahlen zu repräsentativen Organen und an der Ausarbeitung der Verfassung von Cádiz. In Amerika entbrannten Konflikte zwischen Unterstützern des politischen Prozesses in Spanien, die auch die dortigen Organe anerkannten, und Gruppen, die eigene repräsentative Organe bilden wollten. Hinzu kamen Konflikte um politische Autonomie zwischen verschiedenen Städten und Provinzen, Stadt und Land sowie zwischen verschiedenen Gruppen der Eliten um politischen Einfluss. Schließlich griffen in einigen Regionen auch Angehörige der unteren Schichten mit eigenen Zielen zu den Waffen. Dies war besonders in Neuspanien der Fall, wo seit 1810 eine Erhebung mit sozialen Zielsetzungen in kurzer Zeit bis zu 100.000 Kämpfer mobilisieren konnte. In anderen Regionen beteiligten sich Sklaven in der Hoffnung auf Freiheit an den Kämpfen. Nicht immer standen Angehörige der Unter- und Mittelschichten allerdings auf der Seite der Patrioten. Dies zeigte sich vor allem bei den pardos/llaneros (im Hinterland Venezuelas halbnomadisch lebende Viehhirten mit afrikanischen Wurzeln), die sich allerdings später auf die Seite der Unabhängigkeitskämpfer stellten und wesentlichen Anteil am Sieg der Patrioten hatten.

Nach dem gemeinsamen Beginn der U.­Bewegungen sollten sich diese jedoch bald ausdifferenzieren. So erreichten vor allem die lange peripheren Gebiete des span. Imperiums im nördl. und südl. Südamerika recht schnell zumindest de facto die U., während die ältesten Vizekönigreiche Peru und Neuspanien, das im 18. Jh. auch die wichtigste, reichste span. Kolonie war, erst vergleichsweise spät unabhängig wurden. Die zu den im 18. Jh. gegründeten Vizekönigreichen Neugranada (endgültig 1739) und Río de la Plata (1776) gehörenden Regionen lösten sich dagegen in ihrer Mehrheit bereits seit 1810 von Spanien ab. Im nördl. Südamerika konnten die Spanier allerdings die Gebiete zeitweise militärisch zurückerobern. In beiden Regionen kamen die U.-Kämpfer zu dem Schluss, dass die U. letztlich nur dauerhaft gewährleistet war, wenn die Spanier sich gänzlich zurückziehen mussten und über keine Stützpunkte mehr in Amerika verfügten. Deshalb zogen sowohl aus dem Río de la Plata unter der Führung von General José de San Martín als auch von Norden unter der Führung von Simón Bolívar Truppen nach Chile, Peru und Hochperu, um diese royalistischen Hochburgen von der span. Herrschaft zu befreien.

In allen span. Gebieten kam es zu lang anhaltenden militärischen Auseinandersetzungen, in denen nicht einfach die europaspan. Royalisten gegen kreolische Patrioten kämpften, sondern die Loyalitäten komplizierter verteilt waren. Die politischen Forderungen, die von Angehörigen unterschiedlicher Bev.-Schichten erhoben wurden, konnten z. T. erheblich voneinander abweichen. Während die einen mit Freiheit vor allem eine größere Autonomie von der Einmischung Spaniens bei der Regelung interner Angelegenheiten meinten, verstanden andere – zuvorderst Sklaven – unter Freiheit v. a. ihre ganz persönliche Freiheit. Auch soziale Forderungen wurden von Teilen der U.-Kämpfer erhoben.

Die U. Spanischamerikas ist in den letzten Jahren in der Historiographie neu bewertet worden. Sie wird nun weniger als ein antikolonialer Kampf ohne weitergehenden politischen Wandel in den unabhängigen Staaten gesehen. Vielmehr stehen die Auflösung des span. Imperiums, die Interaktion zwischen Spanien und Amerika sowie der Zusammenhang der politischen Entwicklungen in beiden Hemisphären im Vordergrund. Dabei wird deutlich, dass die amerik. Akteure in den politischen Debatten und Veränderungen, die zur liberalen Verfassung von Cádiz führten, eine wichtige Rolle einnahmen. Da allerdings die span. Liberalen ihre kolonialistische Haltung nicht aufgaben und von den amerik. Gebieten einen großen finanziellen Beitrag für den Kampf gegen die Franzosen in Europa forderten, ohne ihnen gleiche Repräsentationsrechte zuzugestehen, trugen sie erheblich zum Zusammenbruch des Imperiums bei. Festzuhalten bleibt für eine Bewertung der U.-Bewegungen in LA, dass sie durchaus revolutionäre Umwälzungen zur Folge hatten, die sich allerdings weniger auf die soziale Lage der Bevölkerung bezogen als auf die politische Ordnung.

Brasilien stellt nicht nur einen Sonderfall dar, weil die Unabhängigkeit hier ohne große militärische Auseinandersetzungen erreicht wurde, sondern weil die Kolonie mit dem Transfer des port. Hofes von Lissabon nach Rio de Janeiro 1808 zunächst zum Zentrum des port. Weltreiches geworden war. Die Unabhängigkeitserklärung erfolgte 1822, nachdem Dom João VI. ein Jahr zuvor der Forderung der port. Cortes Folge geleistet hatte und nach Portugal zurückgekehrt war. Er hatte seinen Sohn Dom Pedro als Regenten in Brasilien eingesetzt. Als Portugal eine Rückkehr zu den alten Verhältnissen der kolonialen Beherrschung Brasiliens anstrebte, erklärte Dom Pedro 1822 die Unabhängigkeit und wurde zum Kaiser von Brasilien proklamiert.

Mit der U.-Erklärung war allerdings nur der erste Schritt getan. Nun mussten die neuen Staaten Gestalt erhalten, was überall zu intensiven Debatten um die Verfassung führte. In allen Ländern bis auf Brasilien (bis 1889 konstitutionelle Monarchie) und kurze Zeit in Mexiko (bis 1823 konstitutionelle Monarchie) entstanden Republiken (Republikanismus). Für alle Staaten galt, dass die Souveränität nun bei der Nation lag und damit auch die Ausübung legitimer Herrschaft auf eine neue Grundlage gestellt wurde. Die anfänglich häufig breite Auslegung der Staatsbürgerschaft sollte allerdings in den folgenden Jahrzehnten wieder eingeschränkt werden. Während noch in Anlehnung an die Verfassung von Cádiz zu Beginn der Eigenstaatlichkeit Indigene die vollen Bürgerrechte erhielten und die afrikanischstämmige Bevölkerung hinzukam, führten neue Wahlgesetzgebungen bald durch Bestimmungen über Lese- und Schreibfähigkeit sowie Zensus zu einer Einschränkung der Wahlberechtigten auf teilw. nur wenige Prozent der Bevölkerung.

Wichtige Auseinandersetzungen über die politische Ordnung, die bereits in der Phase der U.-Kämpfe eine zentrale Rolle spielten, drehten sich um die Frage der territorialen Ordnung und damit verbundener Hierarchievorstellungen, die in der eigenstaatlichen Phase in Konflikte zwischen Föderalismus und Zentralismus übergingen. Schon in der junta-Bewegung seit 1809 verweigerten viele Städte die Vorherrschaft der vizeköniglichen Hauptstädte in der politischen Repräsentation. Sie bevorzugten dann eher Madrid als Zentrale, wie dies z. B. in Montevideo der Fall war, das eine Dominanz von Buenos Aires ablehnte. Solche regionalen Auseinandersetzungen, bei denen häufig auch wirtschaftliche Interessengegensätze der Regionen eine Rolle spielten, führten zur Gründung von wesentlich mehr Staaten, als es Vizekönigreiche gegeben hatte. Einige Anführer der U.-Bewegungen wie Simón Bolívar, der die Vision eines Großkolumbien hegte, konnten sich mit diesen Vorstellungen von größeren politischen Einheiten langfristig nicht durchsetzen.

Als nationaler Gründungsmythos bildet die U. einen wichtigen Teil der jeweiligen nationalen Geschichtsschreibung. Zunächst überwog die Interpretation einer unabwendbaren Entwicklung, in der die Kolonien sich früher oder später von der kolonialen Unterdrückung lossagen mussten. In jüngerer Zeit treten demgegenüber Deutungen in den Vordergrund, die darauf verweisen, dass der Kampf keineswegs von Anfang an eine antikoloniale Bewegung war, sondern seit 1808 zunächst Autonomieforderungen im Vordergrund standen, in denen die Zugehörigkeit der span. Gebiete in Amerika zur span. Krone nicht bestritten wurde, wohl aber eine Zugehörigkeit zu Spanien. Demgegenüber forderten die Patrioten die gleichen Rechte wie sie auch die span. Teile der Krone für sich beanspruchten. Die jüngere Historiographie nimmt außerdem die verschiedenen Bev.-Gruppen mit ihren unterschiedlichen Interessenlagen in den Blick. Diese Differenzierung hat auch deutlich gemacht, dass die alte Gegenüberstellung von Spaniern versus Kreolen im U.-Kampf nicht aufrechtzuerhalten ist. Vielmehr gab es Spanier, die aufseiten der Patrioten kämpften ebenso wie Kreolen, die gegen eine Autonomie oder U. eintraten. Ausschlaggebend war weniger der Geburtsort der Betroffenen, sondern die Frage, wo ihre Interessen und Familien verankert waren. Die 200-Jahr-Feiern anlässlich der U., die 2010 in vielen Ländern entsprechend der offiziellen Datierungen begangen wurden, zeigten aber auch, dass die U. in der gesellschaftlichen Erinnerung noch immer stark nationalistisch aufgeladen ist.

Literaturhinweise

Adelman: Sovereignty and Revolution in the Iberian Atlantic, Princeton 2006; J. E. Rodríguez O.: The Independence of Spanish America, Cambridge 1998; S. Rinke: Revolutionen in Lateinamerika. Wege in die Unabhängigkeit 1760–1830, München 2010.

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