zum Inhalt springen

Indigene („Indios“)

Karoline Noack

Die Frage, wie viele Menschen zum Zeitpunkt der Eroberung (Conquista) in den Amerikas lebten, beschäftigt Historiker, Archäologen, Biologen, Genetiker und Agronomen seit mehr als 60 Jahren. Die Schätzungen gehen extrem weit auseinander. Nicht weniger diskutiert als die Zahlen werden die Ursachen für den Bev.-Rückgang, der mit der Ankunft der Europäer einsetzte und bis zum ersten Drittel des 17. Jhs. anhielt. Die aktuelle Diskussion hebt sich durch die Untersuchung demographischer Entwicklungen in regionalen Fallstudien und die Betonung mehrerer, miteinander kombinierter Faktoren für den Rückgang der Bev. von der älteren Debatte ab. Zu den Ursachen gehören neben Epidemien und Kriegen auch Zwangsvertreibung, die Beschlagnahmung von Nahrungsmitteln, Zwangsarbeit in Landwirtschaft, Bergbau, Bauwesen und Transport (encomienda, Sklaverei). Diese Faktoren führten auch zur Zerstörung von sozialen und wirtschaftlichen Strukturen der indigenen Bev.

Zu den problematischen Quellen der historischen Demographie gehören Zensusberichte, die seit dem frühen 16. Jh. im Auftrag der span. Krone angefertigt worden sind, um die Bev. zu zählen und die Steuerabgaben festzulegen. Die Art der Steuern und Abgaben unterschied sich nach der Kategorie, mit der die Krone die Bev. klassifizierte. So war die Kategorie indio eine neue Klassifizierung, die durch die kolonialzeitliche Verwaltung erst geschaffen wurde. Bekanntlich hatte Kolumbus bei seiner Ankunft auf der Karibikinsel La Española geglaubt, er wäre auf den indischen Inseln gelandet und nannte deswegen deren Bewohner „Indios“. Zu dieser Kategorie innerhalb der kolonialzeitlichen Gesamtbev. wurden die Ureinwohner der Amerikas jedoch nicht durch Kolumbus, sondern durch das Steuer- und Abgabensystem der span. Krone, das durch die Zensusberichte verwaltet wurde. Die Gruppe der indios war zunächst die einzige Bev.­Gruppe Spanisch-Amerikas, die zu Tributen, d. h. zu Rente und Steuer zugleich, gegenüber der Krone verpflichtet war. Die koloniale Gesellschaft wurde seit dem 16. Jh. rechtlich und politisch in zwei getrennten repúblicas verwaltet und regiert. Die Spanier wurden auf der rechtlichen Basis der república de españoles mit anderen Steuern belegt (Koloniale Geschichte). Der Begriff indio subsumierte damit I. aus der Karibik, Zentralamerika, Mexiko und dem Andenraum unter einem Begriff, d. h. Gruppen, die durch eine große soziale, politische und kulturelle Vielfältigkeit charakterisiert waren (Altamerik. Kulturen). Die Belange der in der república de indios organisierten indig. Bev. wurden mit dem derecho indiano als eigener Rechtsprechung (Rechtswesen) reguliert, die eine gewisse Autonomie ihrer sozialen und politischen Organisation und den Schutz des kultivierbaren Landes gewährleistete. Mit der Kategorie indio waren bestimmte Kriterien verbunden wie die Zugehörigkeit zu einer Dorfgemeinschaft (comunidad de indios). Änderten sich diese Kriterien, z. B. wenn jemand sein Dorf verließ, sich in der Stadt ansiedelte, außerdem kirchlich heiratete oder ein städtisches Grundstück (solar) kaufte, so änderten sich auch die Steuerpflicht und die entsprechende Kategorisierung. Aus indios konnten forasteros werden, d. h. Personen, die die Bindungen zu ihrer Herkunfts-Dorfgemeinschaft gekappt hatten. Oder aber sie wurden in den Städten zu vecinos und erlangten damit die koloniale Form der Staatsbürgerschaft, wie es vor allem im 16. Jh. möglich war. Als Stadtbürger waren sie dann rechtlich nicht mehr von den vecinos anderer Herkunft zu unterscheiden. Aus der vereinheitlichenden Kategorie indio „entlassen“, konnten sie sich weiter auffächernden, sozial, ökonomisch und kulturell konnotierten Begriffen zugeordnet werden wie indio ladino, indio criollo, indio ladino criollo, solarero, die den urbanen Zusammenhang, in dem die I. nun lebten, unterstrichen. Möglich war aber auch, dass sie aus jeglicher Kategorisierung herausfielen.

Nach der Unabhängigkeit von Spanien (bzw. mit der Verfassung von Cádiz von 1812) wurde die politische und rechtliche Trennung der kolonialen Gesellschaft in die zwei repúblicas – und mit ihr die Tributpflicht der I. – aufgegeben. Es gab von nun an nur noch eine Republik auf der Grundlage der Verfassung. Die I. der lateinamerik. Republiken, indios unter span. Kolonialherrschaft, sollten zu Staatsbürgern werden. Dieses Bestreben war jedoch sehr kurzlebig. Ökonomische Stagnation und die langwierigen Unabhängigkeitskriege zwangen viele Republiken dazu, die Tributpflicht der I. als „Abgabe“ wieder einzuführen. Mit der Umbenennung sollte die Kontinuität dieser Steuer verschleiert und ihre „Freiwilligkeit“ unterstrichen werden. Vielfach verloren die I. kollektive Schutzrechte an Land und politische Autonomie. In Peru und Bolivien bildeten sich autonome indigene comunidades heraus, anders als in Ecuador, wo diese häufig bis in das erste Drittel des 20. Jhs. in Abhängigkeit der Haziendas verblieben. Mitte des 19. Jhs. wurde angesichts des neuen wirtschaftlichen Booms der Tribut wieder abgeschafft. I. zu sein war seitdem nicht länger eine fiskalische Klassifizierung. Die Möglichkeiten und Formen der Praxis der Staatsbürgerschaft gestalteten sich für die indig. Bev. in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich und variierten je nach den spezifischen historischen Zusammenhängen. Obwohl es z. B. in Bolivien oder in Ecuador kein Gesetz gab, das den I. untersagt hätte, die Staatsbürgerschaft auszuüben, betrachteten die Repräsentanten des Staates die indig. Bev. als eine Masse ohne politische Existenz, die daher unter staatliche Vormundschaft gestellt werden müsse. Dies bedeutete jedoch nicht, dass die I. unfähig gewesen wären, die Konzepte von Nation und Nationalismus zu verstehen und selbst ein nationales Bewusstsein auszubilden, wie Fallstudien in Zentralmexiko und im nördl. Peru belegt haben. Obwohl die I. politisch nicht repräsentiert und an der Macht beteiligt waren, haben sie für den Nationalstaat gekämpft wie z. B. in Peru in dem verheerenden Pazifikkrieg gegen Chile (1879–1884) oder in Bolivien im Bürgerkrieg (1899).

Der Indigenismus wurde zu einer Bewegung, die in LA neue Gesellschaftsentwürfe entwickelte, die den indio als Staatsbürger mit gleichen Rechten in die Nation einbeziehen sollten. Ende des 19. und vor allem seit Beginn des 20. Jhs. gewann diese komplexe ideologischkulturelle und soziopolitische Bewegung in ganz LA, vor allem aber in Mexiko, Guatemala sowie den Andenländern an Bedeutung. Deren Hauptakteure waren insbesondere Angehörige der unteren Mittelschichten, die durch Bildung sozialen Aufstieg erlangt hatten und damit eine neue soziale Schicht v. a. in den Provinzstädten bildeten. Diese mestizo-Mittelschicht (Mestizen) machte sich das „Problem des indio“ zu eigen und formulierte auch mithilfe von Kunst, Literatur und der Wissenschaft (hauptsächlich Archäologie und Anthropologie) soziale und politische Kritik. In diesem Zusammenhang entstanden alternative Repräsentationen des indio in Bild und Text. Flankiert wurden diese Bemühungen durch eine liberale Politik wie z. B. in Peru, bei der es nach Jh. der Marginalisierung speziell nach dem Pazifikkrieg gegen Chile um die Integration der indig. Bev. in die Nation ging. Einer auf solche Weise „vorgestellten“ Nation (imagined community) musste mithilfe der vorspan. Geschichte und ihrer Erben, der nuevos indios (Uriel García), eine signifikante kulturelle Autorität im Kontext einer alternativen lokalen und kulturellen Moderne (Modernisierungstheorien) des 20. Jhs. verliehen werden.

Konzepte wie die des nuevo indio repräsentierten seit den 1930er-Jahren ein neues mestizaje-Projekt. Mestizaje wurde in diesem Rahmen als ein von Mexiko über Guatemala und Nicaragua bis nach Südamerika reichender indoamerik. Prozess betrachtet. Dieser löste die vorausgegangenen Ideen wie von Luis Valcárcel (1891–1987) von der „Reinheit“ der indigenen „Rasse“ ab und wurde von dem Mexikaner José Vasconcelos (1882–1959) stark beeinflusst. Die Menschen verschiedener Herkunft in LA würden danach in einer „Raza Cósmica“(1925), so der Titel des Hauptwerkes von Vasconcelos, aufgehen (Rassismus). Bezüglich einer eigenen Handlungsmacht der I. gab es widerstreitende Positionen unter den Vertretern des Indigenismus. Die Debatten darum halten bis heute an. So wird die Einstellung des ebenfalls über Peru hinaus einflussreichen marxistischen Philosophen, Journalisten und Politikers José Carlos Mariátegui (1894–1930) zu dieser Frage unterschiedlich interpretiert. Zum einen wird ihm vorgeworfen, die Fähigkeit der I., neokoloniale Herrschaftsstrukturen zu kritisieren, negiert zu haben. Der indio habe Mariátegui zufolge keine eigene Stimme. Erst die Literatur könne ihn zum Sprechen bringen. Einer anderen Ansicht nach sei es aber Mariátegui gewesen, der einer „authentischen“ indigenen Weltsicht eine Stimme gegeben habe. Einigkeit besteht darüber, dass Mariátegui mit der Redewendung, das „Problem des indio ist das Landproblem“ die Grundlage für den Austausch des Begriffes indio für die Hochlandbev. durch campesino (Bauer) im offiziellen Vokabular der peruanischen Militärregierung in den späten 1960er-Jahren legte. Waren die Diskurse der genannten Autoren und weiterer in der 1. Hälfte des 20. Jhs. von panamerik. Reichweite, gestalteten sich die nationalen Politiken in LA doch unterschiedlich. In Peru findet die Debatte dahingehend ihren Nachhall, dass der Begriff der I. seit den 1960er-Jahren allein auf die Bev. des Amazonastieflands angewandt wird. Dies wirkt sich bis in die Gegenwart aus, ist Peru doch ein Land mit einer großen autochthonen Bev., in dem, im Unterschied zu Guatemala, Mexiko, Bolivien oder Ecuador, keine nennenswerte indig. Bewegungen als politische Kraft agiert. Es wird deutlich, dass im 20. Jh. die I. als Akteure kaum sichtbar werden; sie sind vor allem in den indigenistischen Diskursen zu finden. Ein Grund dafür ist, dass historische Fallstudien fehlen, wie sie für das 19. Jh. vorliegen.

Diese Situation hat sich seit Beginn der 1990er-Jahre gründlich geändert, seitdem indigene Bewegungen in einer von einigen Autoren sog. „indig. Weltbewegung“ erneut begannen, ihre spezifischen kulturellen und politischen Rechte einzufordern. Initiiert wurde ein neuer interamerik. Dialog, dessen Stichworte Autonomie und Diversität sind. Das Bild der I. mit angeblich unveränderten Traditionen wurde nunmehr durch dynamische neue Akteure auf der politischen Bühne abgelöst, zu denen z. B. die Bewegung der Zapatistas (EZLN) in Mexiko, die mächtigen Organisationen der indigenen Hochlandbev. in Ecuador und die der Cocabauern in Bolivien gehören. Diese Akteure veränderten die politische Landschaft der lateinamerik. Nationalstaaten wie Bolivien und Ecuador, aber auch in Teilen Mexikos nachhaltig. Die Diskurse und Politiken über Indigenität, die die Kriterien dessen, was Indigen-Sein bedeutet, grundlegend veränderten, erreichten damit eine neue globale Dimension. So ist heute wichtigstes Kriterium die indigene Selbstzuschreibung. Auf dieser Grundlage werden gegenwärtig weltweit ca. 250 Mio. I. gezählt. Auch die tiefe Verwurzelung der I. mit ihrem „ursprünglichen“ Territorium ist angesichts der weltweiten Migrationen kein Wesensmerkmal der I. mehr. Kriterien des Indigen-Seins sind nicht essentialistisch und weit davon entfernt, sich von selbst zu verstehen. Sie verändern sich, wie der knappe historische Überblick zeigt, je nach Zeit und Ort und sind von vielen weiteren Bedingungen, Subjektivitäten und den aktuellen Wissensbeständen abhängig. Die Bestimmung von Indigenität ist daher heute zu einem Feld von politischen und gesellschaftlichen Aushandlungen geworden, an dem erstmals, anders als im 19. und 20. Jh., I. und Nicht-I. teilnehmen.

Literaturhinweise

M. de la Cadena, O. Starn (Hg.): Indigeneidades contemporáneas: cultura, política y globalización, Lima 2010; B. Larson, O. Harris (Hg.): Ethnicity, Markets, and Migration in the Andes. At the Crossroads of History and Anthropology, Durham/London 1995; V. Stolcke, A. Coello de la Rosa (Hg.): Identidades ambivalentes en América Latina (siglos X VI–X X I), Barcelona 2008.