zum Inhalt springen

Altamerikanische Kulturen

Ute Schüren

Während der letzten Eiszeit drangen Jäger und Sammler über Sibirien auf den bis dahin menschenleeren amerik. Kontinent vor (Paläoindianische Periode). Wahrscheinlich wurde Amerika aber nicht ausschließlich über die bis zu 2.000 km breite Landbrücke zwischen Sibirien und Alaska (Beringia) und den eisfreien Alberta-Korridor, der die einzige Binnenroute Nordamerikas gen Süden darstellte, besiedelt. Beringia verschwand zwar mit dem Anstieg des Meeresspiegels gegen Ende der Eiszeit (8000 v. Chr.), dennoch brachen die Kontakte mit Sibirien nicht völlig ab. Dies lässt vermuten, dass bereits vorher andere Einwanderungsrouten existierten. Einwanderer hätten die weitgehend eisfreie Westküste mit Booten bereisen und von dort aus nach und nach in das Binnenland vordringen können. Bis heute ist der Zeitpunkt der Erstbesiedelung Amerikas umstritten, da die Gültigkeit besonders früh datierter Funde (wie etwa in Pedra Furada in Nordostbrasilien und Monte Verde in Mittelchile), die auf die Anwesenheit des Menschen hindeuten könnten, bezweifelt wird. Wahrscheinlich begann sie vor etwa 20.000, vielleicht sogar vor 30.000 Jahren. Im Laufe der Zeit entwickelte sich eine große kulturelle Vielfalt, die u.a. der Anpassung an die unterschiedlichen natürlichen Gegebenheiten geschuldet war. Beispielsweise machte der Klimawandel Veränderungen der Sammel- und Jagdtechniken erforderlich (viele Tierarten wie etwa das Mammut starben aus). Darüber hinaus begünstigte er in der Archaischen Periode (von 8000 v. Chr. an) die Domestizierung bestimmter Anbaupflanzen (z. B. von Mais in Mesoamerika und/oder im südl. Zentralamerika) und Tiere (z. B. Kameliden im Andenraum). Schon früh existierte ein teilweise weiträumiger kultureller Austausch, doch die Bereitschaft, Innovationen aufzugreifen, variierte. Zudem ist wahrscheinlich, dass es für viele Innovationen nicht ein einziges Ursprungszentrum gab. Das gilt etwa für die Herstellung von Keramik, von der man die bislang frühesten Beispiele aus dem 6. Jahrtausend v. Chr. in Amazonien (Pedra Pintada um 5600 v. Chr. und Taperinha um 5100 v. Chr.) entdeckte, während sie andernorts, beispielsweise in Panama (Monagrillo) im 3. bzw. im zentralen Andenraum sowie in Mesoamerika (Oaxaca und Pazifikküste von Chiapas und Guatemala) erst im 2. Jahrtausend v. Chr. in Erscheinung trat. Durch die Intensivierung der Anbautechnik konnten die Erträge beträchtlich gesteigert werden. Doch auch das Jagen und Sammeln und insbesondere die Fischerei und der Fang von Meeressäugern waren mitunter hochspezialisierte Tätigkeiten, die das Überleben der Menschen unter teilweise äußerst schwierigen Umweltbedingungen absicherten.

Wo man nur wenige intensive Nutzungsformen praktizieren konnte oder wollte, wo die Bev.-Dichte bspw. aufgrund fehlender Nahrungsgrundlagen gering blieb, prägten egalitäre Gesellschaften oder einfache Häuptlingstümer die politische Organisation der Menschen bis in die Kolonialzeit. In Räumen mit einer reichhaltigen Meeresfauna, entlang fruchtbarer Schwemmlandzonen, in vulkanischen Hochtälern Mesoamerikas, den Flusstälern der peruanischen Nordküste und im andinen Hochland existierten besonders günstige Bedingungen für eine Überschussproduktion, die nicht nur Sesshaftigkeit, sondern auch ein beträchtliches Bev.-Wachstum erlaubten. Dies machte neue Formen politischer Organisation und gesellschaftlicher Integration erforderlich, wobei bestimmte Gruppen wie etwa Krieger oder Handwerker zunehmend von der Nahrungsmittelproduktion freigestellt wurden und politische und religiöse Führer durch die Verteilung von Tributen ihre Anhängerschaft erweitern konnten. Im zentralen Andenraum bspw. wird der Bewässerungsanbau als wichtiger Faktor für das Entstehen größerer Siedlungen betrachtet. Darüber hinaus spielte die Nutzung von Lamas als Tragtiere eine zentrale Rolle, denn die Lama-Karawanen begünstigten intensive Austauschprozesse zwischen verschiedenen Wirtschaftsräumen und erleichterten die politische Expansion. In den Flusstälern der nördl. Zentralküste Perus (Norte Chico) entdeckte man nicht nur besonders frühe Bewässerungssysteme, sondern auch die ersten Beispiele komplexer Architektur Amerikas. Sie datieren überwiegend ins Späte Präkeramikum (2500-1800 v. Chr.). Einige sind sogar noch älter. Gleichzeitig entwickelten sich mehrstufige Siedlungshierarchien und sozial differenzierte Gesellschaften.

In Mesoamerika traten diese Prozesse erst von 1500 v. Chr. an zunächst entlang der Pazifik- und Golfküste, in Oaxaca und im Hochtal von Mexiko auf. Während des olmekischen Kulturhorizonts (1200–400v.Chr.) kam es zu einer verstärkten sozialen Differenzierung. Damit verbunden waren eine weiträumige Verbreitung religiöser und kosmologischer Konzepte, die planvolle Anlage öffentlicher Bauten, die Einführung monumentaler Skulptur, die verstärkte Nutzung des Ballspiels und eine intensive Landwirtschaft. Auch zeigten sich ein typischer Stilkanon, die Schrift und ein Kalendersystem. Wichtige Zentren dieser Entwicklungen waren u. a. San Lorenzo und La Venta im tropischen Küstentiefland der heutigen mexikanischen Bundesstaaten Veracruz und Tabasco (Olman). Die wirtschaftlichen Austauschbeziehungen waren nicht mehr vornehmlich auf Rohstoffe und Fertigprodukte für den Hausgebrauch wie etwa die messerscharfen Klingen aus Obsidian ausgerichtet. Dabei handelt es sich um ein Gesteinsglas vulkanischen Ursprungs, das in Guadalupe Victoria und Otumba, Zentralmexiko sowie in El Chayal, Guatemala und in anderen Minenorten des Hochlandes abgebaut und in annähernd jedem Haushalt verwendet wurde. Hinzu trat ein wachsender Bedarf an Luxusgütern (z. B. Grünstein, Pyritspiegel, feine Keramikwaren, seltene Schnecken- und Muschelschalen), die als wichtige Statusmarker der sich herausbildenden Eliten dienten.

Zwischen 900 und 200 v. Chr. entwickelte sich auch im zentralen Andenraum ein bedeutender früher Kulturhorizont. Ausgrabungen in Chavín de Huántar zeigten, dass das Hochlandzentrum während dieser Zeitspanne eine starke kulturelle Ausstrahlung besaß. Der Frühe oder Chavín-Horizont erstreckte sich über weite Teile des Kulturraums einschließlich der Küstenregion. Wichtigste Indikatoren waren eine typische Architektur, Keramik sowie ein besonderer Bilder- und Darstellungskanon (Kunst).

Der Vergleich des Frühen Horizonts im zentralen Andenraum mit dem olmekischen Kulturhorizont in Mesoamerika zeigt Parallelen. Beide können als Ausdruck integrativer Regionalkulte verstanden werden, die ethnische und sprachliche Grenzen überwanden und überwiegend autonome politische Einheiten mit vergleichbarer sozialer Differenzierung und ähnlichen Interessen der Eliten verbanden. Im 1. Jahrtausend n. Chr. entwickelten sich in beiden Regionen geschichtete Gesellschaften. Häufig handelte es sich dabei eher um kleinräumige Gemeinwesen (komplexe Häuptlingstümer und Kleinstaaten), die durch wirtschaftlichen Austausch, politische Bündnisse, Heiraten, aber auch kriegerische Auseinandersetzungen miteinander in Beziehung standen. Die Betonung lokaler Besonderheiten mittels stilistischer Variationen des Architektur- oder Bilderkanons oder Attribute wie Kleidung, Schmuck oder der Hervorhebung der Abstammung von bestimmten Personen macht deutlich, dass diese Beziehungen ebenso wie das künstlerische Schaffen von Konkurrenz geprägt waren. Darüber hinaus zeigt das wechselhafte Schicksal der Gemeinwesen, dass der Status ihrer Eliten nicht unangefochten war. Einige von ihnen entstanden aus unbedeutenden Siedlungen und versanken bald wieder in der Bedeutungslosigkeit. Andere konnten eine herausragende Position über längere Zeit erhalten und ihre Macht ausbauen. Die Konflikte zwischen den politischen Einheiten reichten von sporadischen oder periodischen Überfällen bis zu Expansionskriegen. Die Vergrößerung der Herrschaftsräume, die mitunter regionale Dimensionen erreichten, war jedoch nicht von Dauer. Die Herrscher mussten sich nicht nur im Hinblick auf ihre Nachbarn, sondern auch gegenüber konkurrierenden lokalen Eliten legitimieren. Politische Integration beruhte vor allem auf Gefolgschaft und Allianzbeziehungen, die häufig wechselten. Zudem leiteten Elitefamilien ihren Status durch die Abstammung von lokalen Ahnen und Gottheiten ab. Die Herrscher traten als Mittler zwischen Göttern und Menschen, als Schamanen oder Priester oder Garanten guter Ernten in Erscheinung. In der rituellen Wiederholung und dem Nachspielen elementarer Schöpfungsakte wurden die kosmische Ordnung und damit ihre Rolle als Träger dieser Ordnung inszeniert. Auch war das Kriegshandwerk von großer Bedeutung, wie die Darstellung von Kriegsszenen, Waffen und militärischen Insignien zeigt. Als prominente Beispiele für Mesoamerika wären hier die Kleinstaaten der Mayakultur während der sog. Klassischen Periode (250–900n.Chr.) und für den Andenraum die Mochekultur (100–800 n. Chr.) an der Nordküste Perus zu nennen. Beide repräsentieren eher kleinräumig organisierte soziopolitische Einheiten. Unter der Herrschaft der Azteken und Inka gelang es hingegen, hegemoniale Staaten von großer Ausdehnung zu schaffen. Der aztekische Staat, der sich auf den zunehmend von Tenochtitlán dominierten Dreibund mit den beiden Stadtstaaten Texcoco und Tacuba/ Tlacopan und der dort beheimateten Gruppen der Mexica (Azteken), Acolhua und Tepanken stützte, erstreckte sich vom Hochtal von Mexiko und der Hauptstadt Tenochtitlán über weite Teile Mesoamerikas. Allerdings umfasste er kein zusammenhängendes Territorium, sondern war zusammengesetzt aus einzelnen Kleinstaaten (altepeque, Sing.: altepetl; 1519 waren es ca. 500) mit eigener Herrscherelite, die seit 1440 durch Eroberung, Drohgebärden, Heiratspolitik und politische Bündnisse in den Herrschaftsbereich einverleibt worden waren und regelmäßig Tribute bzw. „Geschenke“ leisten mussten. Der Inkastaat (Tawantinsuyu) hatte zum Zeitpunkt der Ankunft der Spanier 1532 eine ähnlich kurze Geschichte wie das aztekische Tributimperium, wenn seine Ausdehnung auch ungleich größer war. Von seinem in 3.400 m Höhe gelegenen Zentrum Cuzco in den Anden erstreckte er sich über weit mehr als 4.000 km nach Süden bis in den Norden von Chile und nach Westargentinien. Im Norden reichte er bis ins südl. Kolumbien. Diese immense Ausdehnung des Reiches, das wie bei den Azteken eine große Vielfalt an Naturräumen und Ressourcen sowie Regionalgesellschaften mit ihren eigenen Kulturen und Sprachen einschloss, war vor allem durch die Eroberungszüge dreier Herrscher (Pachacutec, Tupac Yupanqui und Huayna Capac) seit etwa 1438, also in weniger als 100 Jahren, entstanden. Zwar war die staatliche Durchdringung und Verwaltung der eroberten oder anderweitig einverleibten ehemals autonomen Provinzen stärker fortgeschritten als im aztekischen Reich, doch war Tawantinsuyu ebenso wie der aztekische Staat zum Zeitpunkt der span. Eroberung weder politisch gefestigt noch ideologisch geeint, was die europäische Eroberung erheblich erleichterte.

Literaturhinweise

T. D. Dillehay: The Settlement of the Americas: A New Prehistory, New York 2001; S. T. Evans: Ancient Mexico and Central America: Archaeology and Culture History, London 2008; H. J. Prem: Geschichte Alt-Amerikas, München 2008; F. Salomon, S. B. Schwartz (Hg.): The Cambridge History of the Native Peoples of the Americas, Cambridge 1999; A. Gunsenheimer, U. Schüren: Amerika vor der europäischen Eroberung, Frankfurt a. M. 2013; H. Silverman, W. H. Isbell (Hg.): Handbook of South American Archaeology, New York 2008.

*