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Ethnizität / Ethnische Gruppen

Christian Büschges

Vorstellungen sozialer Ordnung beruhen in LA seit der Kolonialzeit in besonderem Maße auf der Annahme ethnischer Unterschiede zwischen Menschen und Menschengruppen. E. meint die mit dem Glauben an eine gemeinsame Abstammung verbundene Behauptung kultureller Eigenart und Differenz. Auf dieser Grundlage werden in gesellschaftlichen Diskursen und Praktiken soziale Gruppen anhand ethnisch gedeuteter Kriterien (Hautfarbe, Sprache, Kleidung, Traditionen und Bräuche) definiert und voneinander abgegrenzt. Ethnische Grenzziehungen in einer Gesellschaft oder zwischen Gesellschaften, sind nicht der Ausdruck objektiver, historisch feststehender Merkmale, sondern Ergebnis der Durchsetzung kultureller Deutungsmuster im Kontext von zumeist asymmetrischen Machtbeziehungen.

Kolonialzeit Bereits im frühen 16. Jh. unterschied die span. Krone die als Indianer (indios) bezeichnete Urbevölkerung des Kontinents von den span. Conquistadoren, die als españoles (oder blancos) bezeichnet wurden. Diese Abgrenzung ging mit der Zuteilung gruppenspezifischer Rechte und Pflichten einher. Die indigene Bev. erhielt zwar den Status freier Vasallen der span. Krone, wurde aber aufgrund der ihr zugeschriebenen kulturellen Unterlegenheit gesellschaftlich vielfältig benachteiligt. Noch im 16. Jh. wurde diese rechtlich sanktionierte soziale Differenzierung auf andere, ebenfalls ethnisch definierte Gruppen ausgeweitet. Neben den als Schwarze (negros) bezeichneten afrikan. Sklaven gehörten hierzu verschiedene Gruppen von sog. „Mischlingen“, allen voran die Nachkommen span. und indianischer (mestizos) sowie span. und schwarzer (mulatos) Vorfahren.

Neuere Forschungen haben gezeigt, dass diese ethnisch legitimierte Sozialordnung, für die sich der Begriff der Kastengesellschaft (sociedad de castas) einprägte, verschiedene Strategien sozialer Mobilität zuließ. Dies lag nicht zuletzt daran, dass die Hautfarbe als zentrales Merkmal ethnischer Differenz mit der zunehmenden „Vermischung“ der lateinamerik. Bev. an Eindeutigkeit verlor. Die Zuordnung zu einer der offiziell unterschiedenen ethnischen Gruppen wurde damit vor allem in den größeren Städten spätestens im 18. Jh. zum Ergebnis der Vermittlung zwischen individuellem Anspruch und gesellschaftlicher Akzeptanz, basierend auf verschiedenen Kriterien wie der Sprache, der Kleidung, der sozialen Kontakte oder des Eigentums und der beruflichen Tätigkeit. Ähnliche ethnisch definierte soziale Differenzierungen und Dynamiken lassen sich in unterschiedlicher Ausprägung auch im kolonialen Brasilien und der franz. Karibik (Saint-Domingue) feststellen.

Die unabhängigen lateinamerik. Staaten Infolge der lateinamerik. Unabhängigkeitskämpfe zwischen 1804 und 1826 wurde die koloniale Einteilung der Bev. in verschiedene ethnische Gruppen zunächst in vielen Ländern abgeschafft. Allerdings wurden in einigen Staaten bis zur Jahrhundertmitte neben der Sklaverei verschiedene Sonderregeln für die indigene Bev. beibehalten, etwa die Tributpflicht oder der kollektive Grundbesitz von als indigen anerkannten Landgemeinden. Die Abschaffung dieser letzten Elemente einer aus der Kolonialzeit überkommenen ethnischen Verwaltung ging in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. vielerorts mit einem liberalen Fortschrittsoptimismus einher, der in der Überwindung ethnischer Grenzziehungen die notwendige Voraussetzung für einen modernen, wirtschaftlich prosperierenden Nationalstaat sah. In Argentinien und Chile wurden gegen Ende des Jhs. zudem die letzten unabhängigen indigenen Gebiete im Süden des Kontinents militärisch erobert. Im übrigen span. Amerika wurde das indigene Erbe des Kontinents zwar im frühen 20. Jh. als Teil der nationalen Kultur wiederentdeckt, jedoch jenseits einer folkloristischen Aneignung weitgehend in Gestalt musealer Erinnerung und historisch-anthropologischer Forschung auf die vergangene Glanzzeit der Inka, Azteken und anderer vorspan. Völker reduziert (Indigenimus). Als Symbol der neuen nationalen Einheit galt fortan der „Mischling“, allen voran der Mestize im ehemals span. Amerika und der Mulatte in Brasilien. Außerhalb Brasiliens und der ehemaligen großen Plantagenökonomien der Karibik geriet die afroamerik. Bev. hingegen weitgehend aus dem Blickfeld der offiziellen nationalen Rhetorik (Afroamerikaner/innen).

Ethnizität als politische Ressource in der Gegenwart Nach einer frühen Hochphase afrobrasilianischer Aktivisten in den 1960er-Jahren sind es vor allem seit den 1990er-Jahren die indigenen Bewegungen, die eine Abkehr von der Idee eines kulturell homogenen Nationalstaats fordern, für eine Anerkennung ethnischer Differenz eintreten und die Umformung der politischen Gemeinwesen in multikulturelle oder pluriethnische Staaten fordern (Indigene, soziale Bewegungen, Verfassung). Die negative ethnische Diskriminierung der Kolonialzeit hat sich zu einer positiven Diskriminierung gewandelt. Die beanspruchte Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe zielt zum einen auf die Wahrung kultureller Selbstbestimmung, zum anderen auf eine staatlich geförderte politische Partizipation und wirtschaftliche Entwicklung.

Literaturhinweise

C. Büschges, B. Potthast: Vom Kolonialstaat zum Vielvölkerstaat. Ethnisches Bewußtsein, soziale Identität und politischer Wandel in der Geschichte Lateinamerikas, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 52,10 (2001), 602–620; R. D. Cope: The Limits of Racial Domination: Plebeian Society in Colonial Mexico City, 1660–1720, Madison 1994; F. Mallon: Indian Communities, Political Cultures and the State in Latin America, in: Journal of Latin American Studies 24 (1992), 35–53.

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